
Bild: “red onion” von Aleksandar Cocek. Lizenz: CC BY SA 2.0
Ein Mangel im System
Wenn man in Deutschland akute Beschwerden hat, die eine weitere Diagnostik erfordern, beispielsweise eine Magenspiegelung bei akuten Bauchschmerzen oder ein MRT bei Hüftschmerzen, hat man nur zwei Möglichkeiten. Der eine Weg führt über den Hausarzt, bei dem man sich eine Überweisung zum Spezialisten geben lässt.
Bei diesem kann man dann mit Wartezeiten von mehreren Wochen, wenn nicht Monaten rechnen. Der andere Weg ist, sich in einer Notaufnahme oder beim kassenärztlichen Notdienst vorzustellen, und eine sofortige Behandlung zu bekommen.
Die Spanne zwischen akuter und nicht akuter Versorgung ist dabei so groß, dass das System dazu einlädt, Beschwerden künstlich zu übertreiben und sich mit Symptomen beim Notdienst vorzustellen, die eher harmlos sind. Auf der anderen Seite ist es mehr als verständlich, dass man sich nicht monatelang mit Schmerzen rumquälen möchte, bis es in der Behandlung weitergehen kann. Insbesondere wenn man einen anstrengenden Alltag zu bewältigen hat, muss man schnell wieder ausreichend belastbar sein.
Leidtragende dieses Dilemmas sind wir alle. In der Notaufnahme tummeln sich neben den akut lebensbedrohlichen Fällen auch Patienten, die schon seit Wochen Verstopfung haben und die sich früh morgens um drei endlich dazu entschlossen haben, etwas dagegen zu unternehmen. Für die Ärzte ist es so schwerer, die ernsten Fälle herauszufiltern. Wenn man wirklich mal eine Akutversorgung braucht, muss man mit langen Wartezeiten rechnen.
Die Verantwortung für die eigene Gesundheit abgeben
Eine weitere Erklärung ist ein Wandel, der sich in den letzten Jahren im Gesundheitssystem vollzogen hat. Die Patienten geben die Verantwortung schneller ab und sind auch klagefreudiger. Karl-Otto-Bergmann, Rechtsanwalt für Medizinrecht, berichtet in einem Artikel auf faz.net von einer deutlichen Zunahmen von Klagen gegen Mediziner in den letzten Jahren.
Als Ursache nennt er die Popularität des Themas „Ärztepfusch“ in den Medien und eine bessere Information der Patienten über ihre Rechte. Jede zweite Klage sei dabei erfolgreich, weshalb eine ausreichende Versicherung für Ärzte unabdingbar sei. Mittlerweile muss man als Arzt nicht nur den Aufklärungsbogen unterschreiben lassen, sondern auch eine Bestätigung, das eine Kopie davon ausgehändigt wurde.
Das System ist hoch bürokratisiert und wasserdicht, andererseits entsteht auf Patientenseite die Verunsicherung, nicht abgesichert zu sein, wenn man nicht früh genug mit seinen Symptomen beim Arzt war. Daraus resultiert eine höhere Bereitschaft, auch im Zweifelsfall den Arzt aufzusuchen.
Das Wissen über Selbsthilfe geht verloren
Die Familie als soziale Institution nimmt in unserer Gesellschaft immer mehr an Bedeutung ab. Die Familien werden kleiner, und sind immer weniger vernetzt. Während es für die Großelterngeneration noch normal war, dass von der Großmutter bis zum Enkel alle unter einem Dach wohnen, sind heute in vielen Familien die Mitglieder in alle Himmelsrichtungen verstreut. Die Zahl an Singlehaushalten steigt stetig. So wird das Wissen über Hausmittel auch nicht mehr über Generationen weitergegeben, wie es noch vor einigen Jahrzehnten üblich war.
Der Hausarzt wird immer mehr zum Ansprechpartner, wo früher zuerst in der eigenen Familie nach Rat gefragt wurde, vor allem für alleinstehende Alte. Junge nutzen vermehrt eine andere Informationsquelle und recherchieren im Internet. Hier findet man zahlreiche Tipps, aber auch viel Verunsicherung und gegensätzliche Meinungen.
So führt das scherzhaft genannte „Panikgoogeln“ dazu, dass man hinter leichten Kopfschmerzen nach einer halben Stunde Surfen einen Hirntumor vermutet, und am nächsten Morgen beim Hausarzt auf eine Computertomographie besteht, anstatt sich erstmal in der nächsten Apotheke Ibuprofen zu besorgen.
Die Großmutter hätte hier womöglich erstmal auf ihre Erfahrung gezählt, beschwichtigt und zu einem Glas Wasser und einer Runde frischer Luft geraten. So hätte sie unbewusst verhindert, dass das Gesundheitssystem überflüssig strapaziert wird.
Die Praxisgebühr ein gescheiterter Lösungsversuch
Einen Ansatz, die Zahl der (überflüssigen) Arztbesuche zu verringern, war die Praxisgebühr. Sie führte jedoch nur zu einem erhöhten Verwaltungsaufwand und dazu, dass Geringverdiener nicht mehr zum Arzt gingen, wenn es eigentlich nötig gewesen wäre. So wurde sie Anfang 2013 wieder abgeschafft.
Neuere Lösungsansätze gibt es noch nicht und bis jetzt tragen die einzelnen Kliniken, Ärzte und Praxen die Mehrbelastung. Doch in Zukunft wird sich etwas an der allgemeinen Aufklärung und dem Gesundheitssystem ändern müssen, um das Vertrauen der Leute zu stärken und die Notdienste für die wirklich wichtigen Fälle frei zu halten. Das Problem ist also sowohl ein strukturell-organisatorisches, als auch ein gesamtgesellschaftliches, und kann nur auf beiden Ebenen gelöst werden.
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