
Bild: “Doctors with patient, 1999” von Seattle Municipal Archives. Lizenz: CC BY 2.0
Üben in der Notaufnahme
Bevor ich den ersten eigenen Patienten aufnehmen durfte, hatte ich während der Famulatur im Kreiskrankenhaus die Möglichkeit, ein bisschen zu üben. Ich durfte in der Notaufnahme Patienten voruntersuchen, die keine „echten“ und dringenden Notfälle waren, sondern angemeldet kamen. Dabei staunte ich nicht nur einmal.
Bei einem Patienten hätte ich meine Hand ins Feuer gelegt, dass er unter einer Verstopfung litt, die Symptome passten perfekt. Nachdem die Assistenzärztin dann den Ultraschallkopf auf seinen Bauch legte, sah das schon anders aus. Es zeigte sich eine prall gefüllte Blase, der Mann hatte schließlich eine Prostatahyperplasie mit Harnverhalt, und durch einen Katheter ging es ihm in kurzer Zeit viel besser.
Eine ältere Dame hätte ich nur mal ein paar Schritte gehen lassen müssen, um entscheidende Hinweise zu bekommen. Dann wären mir ihre Kleinschrittigkeit und der Tremor aufgefallen, was mich auf die richtige Fährte gelockt hätte. So aber blieb ich im Dunkeln, und der Assistenzarzt klärte das Problem in gefühlten 3 Sätzen. Ich ahnte, dass das Ganze nicht so einfach werden würde.
Die Brücke vom Studium zur Praxis ist oft ganz schön wacklig. Kein Wunder, denn im Medizinstudium lernen Sie genau in die falsche „Richtung“. Während in den Lehrbüchern und Vorlesungen unter einem Krankheitsbild die passenden Symptome und Vorgehensweisen in der Diagnostik aufgelistet sind, sind Sie in der Praxis erstmal mit einer Fülle von Symptomen konfrontiert – ohne das Krankheitsbild dazu zu kennen.
Es wird ernst: das Aufnahmegespräch
Ein paar Semester später war es dann so weit: Bei einer Famulatur in einer neurologischen Tagesklinik durfte ich meinen ersten eigenen Patienten befragen, untersuchen und schließlich in der Visite den Ärzten vorstellen.
Dafür hatte ich einen eigenen Untersuchungsraum und schon Stunden vorher alles vorbereitet: Anamnesebogen, Stethoskop, Reflexhammer, Spatel, Blutdruckmanschette, etc. Auch die Akte hatte ich schon vorher durchgelesen, um mir ein Bild zu machen.
Als ich den Patienten schließlich an der Anmeldung abholte, musste ich erst mal schlucken. Die Ehefrau war auch mitgekommen und wollte unbedingt mit zu dem Gespräch. Mein erstes richtiges Patientengespräch fand also unter sechs statt unter den erwarteten vier Augen statt.
Allein das war eine Herausforderung, da Patient und Ehefrau unterschiedliche Angaben machten, Eigen- und Fremdanamnese also nicht übereinstimmten. Vor allem die Ehefrau erzählte munter drauf los. Ich versuchte mir, alles zu notieren, und der Anamnesebogen war schnell vollgeschrieben. In dem Tempo schaffte ich es auch nicht mehr, die Angaben an die richtigen Stellen zu schreiben.
Nach und nach klapperte ich die Schritte Jetztanamnese, Eigen- und Fremdanamnese, Medikamentenanamnese, vegetative Funktionen, Familien- und Sozialanamnese ab. Außerdem konnte ich mir schon ein grobes Bild von der psychischen Verfassung des Patienten machen. Das ein oder andere musste ich nochmal nachfragen, und hoffte inständig dass sie mich dadurch noch nicht als kompletten Anfänger entlarvt hatten.
Als ich zu den neuropsychologischen Fähigkeiten kam, war ich dankbar, die Angaben der Ehefrau zu haben. Sie hatte ihren Mann in der letzten Zeit genau beobachtet und konnte hilfreiche Angaben machen. Nach etwa 20 Minuten schickte ich die Ehefrau nach Hause und begann mit der körperlichen Untersuchung.
DO:
- Machen Sie vorher eine Checkliste, was unbedingt gefragt werden muss (Alter, Vorerkrankungen, …).
- Schreiben Sie ruhig auf ein weißes Blatt und übertragen die Angaben später strukturiert in den Anamnesebogen, wenn Sie noch ungeübt sind.
- Halten Sie sich an dieses Schema: WANN hat es angefangen, WAS? WO? WELCHE Schmerzqualität? WIE hat es sich bis jetzt verändert? Das ist wichtig für die spätere Vorstellung.
- Fragen Sie vor allem Daten genau ab. Wenn der Patient keine genauen Angaben machen kann, versuchen Sie wenigstens, den Zeitraum einzugrenzen.
DON’T:
- Seien Sie nicht zu schüchtern, nochmal nachzufragen, wenn etwas unklar bleibt.
- Gehen Sie nicht davon aus, dass Patienten Ereignisse von selbst erzählen. Oft werden Operationen zum Beispiel nicht als Krankheit gesehen oder der Bluthochdruck wird nicht erwähnt, weil er mit Medikamenten behandelt wird.
- Bewerten Sie nicht die Dinge, die der Patient sagt. In solchen Gesprächen erfährt man oft sehr persönliche Umstände, bleiben Sie dabei neutral und empathisch.
Die körperliche Untersuchung
Nach der Anamnese folgt eine gründliche körperliche Untersuchung, die je nach Fragestellung und Fachgebiet variiert. Auch wenn die Untersuchung in einem speziellen Fachgebiet stattfindet, gehört eine kurze allgemeinkörperliche Untersuchung dazu.
Immer dazugehören sollte die Inspektion des Patienten, wozu er sich entkleiden sollte. So kann man den Allgemein- und Ernährungszustand erfassen und Haut und Schleimhäute auf Pathologien untersuchen. Außerdem gehören die Auskultation von Lunge und Herz, die Palpation des Abdomens und der Halslymphknoten, der Pulsstatus und eine kurze Beurteilung von Haltung und Wirbelsäule dazu. Gewicht, Größe und Blutdruck sollten ebenfalls erfasst werden.
Danach kann man zur speziellen Untersuchung übergehen. In meinem Fall war das die neurologische Untersuchung. Sie gehört zu den aufwendigsten Untersuchungen und beinhaltet zahlreiche Einzelschritte, wie das Prüfen der einzelnen Hirnnerven, der Reflexe, der Motorik und Sensibilität, sowie Gang und Koordination.
Obwohl ich schon ein paar neurologische Untersuchungen an Freunden geübt hatte, kam ich ins straucheln und musste immer wieder nachgucken, ob ich nichts vergessen hatte. Auch musste ich den Patienten zwei Mal die Socken ausziehen lassen, weil ich nochmal den Vibrationssinn an den Knöcheln testen musste.
Er nahm es mir nicht übel aber ich kam ins Schwitzen und war froh, als ich schließlich am Ende war und mir alles nochmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen konnte.
DO:
- Üben Sie körperliche Untersuchungen an Freunden oder Kommilitonen, um sicherer im Ablauf zu werden.
- Trauen Sie sich, genau hinzuschauen und so lange zu fühlen oder hören, bis Sie sich sicher sind.
DON`T:
- Lassen Sie keine Angaben weg, nur weil der Befund unauffällig war. So sieht es später aus, als wurde die entsprechende Untersuchung nicht gemacht. Notieren Sie alles, was Sie erhoben haben.
- Schauen Sie sich nicht immer nur eine Körperseite an, testen Sie lieber immer im direkten Seitenvergleich, beispielsweise die Reflexe. Testen Sie nie zuerst die kranke, sondern immer zuerst die gesunde Seite.
Fazit
Erst bei der Patientenvorstellung habe ich dann gemerkt, dass ich zwar einen groben Überblick hatte, aber auch wichtige Details vergessen hatte. Vor allem konnte ich den zeitlichen Ablauf der Krankheit nicht so genau wiedergeben, wie ich es mir gewünscht hätte.
Inzwischen habe ich weitere Gespräche geführt und speziell darauf geachtet, die konkreten Angaben aus den teils unstrukturierten Erzählungen des Patienten herauszufiltern oder gegebenenfalls nochmal nachzuhaken. So werde ich mit jedem Gespräch besser und kann heute drüber lachen, wie unbeholfen ich beim ersten Gespräch war. Denn wie bei so vielem trifft auch hier wohl zu: Übung macht den Meister.
Julia ist 24 und studiert in Leipzig im 9. Semester Medizin. Sie hat Famulaturen beim Hausarzt, auf einer inneren Station, in einer neurologischen Tagesklinik und in der Hautklinik gemacht. Aktuell schreibt sie ihre Doktorarbeit in der kognitiven Neurologie.
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