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Nathan Dumlao auf Unsplash
Gedankenexperiment
Sie sind Student. Es ist Montagmorgen und sie haben verschlafen. Die prüfungsrelevante Vorlesung zur Einführung ins Strafrecht fängt in drei Minuten an. Keine Chance, pünktlich zu erscheinen. Schließlich trennen Sie mindestens 20 Minuten Anfahrtsweg vom Audimax.
Doch statt in Panik zu geraten und überstürzt aus der Wohnung zu laufen, schalten Sie erst einmal entspannt die Kaffeemaschine an und klappen Ihren Laptop auf. Nein, Sie werden nichts verpassen, denn Sie haben das Glück, der Vorlesung per Online-Video beiwohnen zu können.
Schleppender Trend in Deutschland
In den vergangenen Jahren hat sich einiges auf dem Gebiet der digitalen Hochschullehre getan. Mit den technischen Neuerungen, kamen auch zahlreiche Einsatzmöglichkeiten für den Hochschulbetrieb hinzu.
Beispiele, wie oben geschildert, gibt es immer öfter. Heutzutage bekommen immer mehr Studenten die Möglichkeit, online an sogenannten E-Lectures und MOOCs (Massive Open Online Course) teilzunehmen.
Dabei handelt es sich jedoch um einen Trend, der sich in der deutschen Hochschullandschaft nur schwerlich durchsetzen will. Während sich das Konzept der Video-Vorlesungen schon seit einigen Jahren an zahlreichen US-Universitäten etabliert, stellt die Option auf E-Lectures an deutschen Hochschulen keineswegs die Norm dar, sondern nimmt noch immer eine Pionierstellung für ausgewählte Kurse und Fachbereiche ein.
Doch woran liegt das? Bringt eine solche digitale Entwicklung der Hochschullehre doch offensichtliche Vorteile für Studierende und Lehrende mit sich.
Studium als Massenphänomen
Jedes Jahr drängen sowohl in Deutschland als auch in den USA immer mehr Studierende an die Universitäten. Die Folgen sind oftmals überfüllte Hörsäle, NC-Zulassungsbeschränkungen und Wartesemester. Studieren wird normal und erfreut sich immer größerer Beliebtheit. Inzwischen strebt die Hälfte jedes Jahrgangs nach ihrem Abschluss ein Studium an.
In diesem Kontext, scheinen Online-Vorlesungen wie dafür geschaffen, dem Andrang vor den Hörsälen beizukommen und zugleich der vielfältigen Studentenschaft ein flexibleres Studium zu ermöglichen. Somit wäre jegliche Veranstaltung jederzeit zugänglich, ungeachtet der Zahl ihrer Teilnehmer und derer persönlichen Terminpläne.
Nicht jedes Semester aufs Neue ein und dieselbe Einführungsvorlesung halten zu müssen, sondern ebendiese in Form einer e-lecture online anzubieten, könnte eine beträchtliche Entlastung der Lehrenden sein. Professoren hätten mehr Zeit und könnten sich so verstärkt auf ihre Forschung und auf Präsenzveranstaltungen konzentrieren.
Diese und weitere Argumente für Online-Vorlesungen – von Barrierefreiheit bis hin zu neuen Potenzialen für das Hochschulmarketing – sollten im Grunde Anreiz genug für eine Umstrukturierung der klassischen Hochschullehre sein. Wieso also scheint sich die digitale Revolution bei deutschen Universitäten zu verzögern?
Andere Ausgangslage an Deutschlands Hochschulen
Der Unterschied, der sich vor allem zwischen US-Universitäten und deutschen Hochschulen abzeichnet, ist jedoch beachtlich und darf nicht verkannt werden.
Der in den USA und in manchen Schwellenländern bestehende Bedarf an Video-Vorlesungen sowie ihre, im Rahmen von MOOCs zugehörigen Wikis, Online-Tests, Podcasts und Gruppen-Chats, ist in Deutschland nicht annähernd so hoch.
Im Gegensatz zur Situation in einigen Schwellenländern, in denen Studierende teils nur über Online-Videos an qualitativ hochwertige Lehre gelangen, ist der Zugang zu hochwertiger Bildung in Deutschland im Allgemeinen gewährleistet.
Den Vergleich mit US-Hochschulen, hinsichtlich der Studiengebühren, braucht Deutschland genausowenig zu scheuen. Während sich die jährlichen Studienkosten in den USA auf mehrere zehntausend Dollar pro Student belaufen, ist Studieren seit 2014 in Deutschland wieder gebührenfrei. Online-Vorlesungen und MOOC-Modelle haben hierzulande somit auch nicht dieselbe wirtschaftliche Relevanz.
Die Realität im deutschen Hochschulalltag
Auch wenn sich zahlreiche Lehrende über die Vorteile der Digitalisierung im Klaren sind, gilt für sie dennoch, Aufwand und Umsetzbarkeit solcher Konzepte zu berücksichtigen. Da Online-Lehre häufig nicht auf das Lehrdeputat anrechenbar ist, dürfte sich manch eine Lehrkraft nicht ganz zu Unrecht die Frage stellen, worin für sie der Anreiz besteht, Zeit in die Entwicklung guter digitaler Lehrangebote zu investieren.
Schließlich sind nicht alle Dozenten technikaffin und müssten bei solch einem hohen Produktionsaufwand entweder erst in diesem Bereich ausgebildet werden oder geschulte Mitarbeiter an der Hand haben, die sich an Ihrer Stelle um das ganze Drumherum kümmern.
Bedenken, dass das Zusatzangebot einer Online-Vorlesung zu leeren Hörsälen führt und den Verlust des Kontaktes zwischen Lehrenden und Studenten begünstigt, könnten zudem weitere Gründe sein, wieso sich hierzulande immer noch viele Lehrende zieren.
Deutsches Hochschulsystem als Entwicklungsbremse
Um Zweifel und Startschwierigkeiten bereitwilliger Lehrkräfte zu beseitigen, müsste vor allen Dingen etwas am bestehenden Hochschulsystem in Deutschland geändert werden. Der Mehrwert von E-Lectures ist für Hochschulen nämlich in erster Linie als Bestandteil von MOOCs oder Online-Studiengängen gegeben.
Die Herstellung von Videos lohnt sich mehr, wenn tatsächlich mehrere tausend Studenten darauf zugreifen, als wenn sie als bloße Aufzeichnung von weiterhin stattfindenden Präsenzveranstaltungen für nur 300 Studierende fungieren.
Damit E-Lectures und MOOCs als fester Bestandteil der Hochschullehre gelten und ihre Gleichwertigkeit mit Präsenzveranstaltungen anerkannt werden können, muss jedoch erst noch eine Vielzahl an institutionellen Barrieren beseitigt werden.
Institutionelle Hürden für die Digitalisierung
Die Kapazitätsverordnung von Universitäten bedarf einer Neuregelung, damit Hochschulen keine Gerichtsverfahren zu fürchten haben, wenn sie ihre Lehreffizienz durch Online-Angebote steigern. Noch ist es so, dass die Anzahl an Studienplätzen an jeder Universität durch die Verordnung des Wissenschaftsministeriums geregelt wird.
Auch Akkreditierungswesen und Urheberrecht müssten an das digitale Zeitalter angepasst werden. Auf diese Weise wäre die Möglichkeit zu digitalen Modulen sowie größere Spielräume und Rechtssicherheit hinsichtlich der Lehrwerke geboten.
Eine weitere bedeutende Erschwernis für die Durchsetzung der Online-Lehre ist die Lehrorganisation an deutschen Universitäten und das damit einhergehende Rollenprofil in der akademischen Lehre.
Von Rednern, Didaktikern und Übungsleitern
US-Universitäten verfügen über eine größere Binnendifferenzierung in der Lehrorganisation, sodass verschiedene Bereiche der Lehre durch vielfältige Rollen (Teaching Assistant, Lecturer, Senior Lecturer, Reader usw.) abgedeckt werden. Deutsche Hochschullehrkräfte stemmen den Großteil hingegen meist selbst und verfügen dadurch auch über ein anderes Rollenverständnis.
Für die Durchsetzung von E-Lectures und Online-Studien wäre eine solche Differenzierung insofern förderlich, dass Aufgaben innerhalb der Lehre nach Eignung verteilt werden könnten. Didaktiker konzipieren die Vorlesung, rhetorisch begabte Kollegen tragen Sie vor, weitere begleiten Studenten bei Übungen in Seminaren.
Unter diesem Gesichtspunkt wäre die Frage berechtigt, was mit unzähligen Arbeitsplätzen an Hochschulen geschieht, wenn alle Kurse konzipiert und abgedreht wurden. Die Angst vor Stellenabbau stellt eine weitere Barriere dar. Zahlreiche Lehrkräfte an US-Universitäten fürchten bereits eine Tendenz in diese Richtung und stellen sich darum entschieden gegen das Konzept von E-Lectures und MOOCs.
Zusammenfassende Gedanken
An potentiellen Nutzern und technischen Voraussetzungen für Online-Studien und E-Lectures mangelt es hierzulande keinesfalls. Zwar versuchen sich immer mehr Universitäten in E-Lectures, für den Durchbruch einer Digitalisierung wie in anderen Ländern fehlen jedoch sowohl der ausgeprägte Bedarf als auch grundlegende Reformen im deutschen Hochschulsystem.
Quellen
Die digitale (R)evolution – Chancen und Risiken der Digitalisierung akademischer Lehre via CHE
Die schlafende Revolution – Zehn Thesen zur Digitalisierung der Hochschullehre via CHE
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