
Bild: “stau” von Stephanie Klocke. Lizenz: CC BY 2.0
Alle Wege führen nach Rom, doch welcher ist der günstigste?
In seiner Abhandlung „Über ein Paradoxon der Verkehrsplanung“ beschäftigte sich Dietrich Braess 1968 mit dem Phänomen des Verkehrsflusses. Er betrachtete ein Verkehrsnetz und eine gegebene Anzahl an Verkehrsteilnehmern. Jeder von diesen Fahrzeugführern würde, um seine gewünschte Strecke von A nach B zu fahren, die für ihn günstigste Strecke wählen. Die für den Fahrer günstigste Strecke kann dabei
- die streckenmäßig kürzeste Strecke oder
- die zeitmäßig kürzeste Strecke sein.
Der relative Gewinn durch die kurze Fahrstrecke wird durch den höheren Zeitaufwand wieder wettgemacht. Hingegen kann die zeitlich kürzeste Fahrstrecke die günstigste Strecke sein, auch wenn sie eine längere Fahrstrecke aufweist. Wie kann das sein?
Erfahrungen aus der Praxis
Vielleicht ist Ihnen das Braess-Paradoxon schon in den Grundzügen aus Ihrem Alltagsleben bekannt. Nehmen wir an, Sie wohnen in der Stadt Aheim und wollen morgens zu Ihrer Arbeitsstelle nach Beburg fahren. Dieses Ziel teilen Sie mit vielen Pendlern, die von Aheim nach Beburg fahren. Sie haben mehrere Möglichkeiten, nach Beburg zu gelangen:
- Sie fahren 30 Kilometer über die Autobahn 111,
- Sie fahren 30 Kilometer über die Autobahn 222 oder
- Sie fahren 20 Kilometer über die Landstraße und die zwischenliegenden Dörfer.
Mit dem Braess-Paradoxon verhält es sich ähnlich. Kürzere oder zusätzliche Wege führen nicht unbedingt schneller nach Rom oder nach Beburg. Die beiden Strecken über die Autobahnen 111 und 222 sind vollkommen gleichwertig. Nehmen wir an, Sie und weitere 199 fleißige Mitmenschen fahren jeden Morgen um die gleiche Zeit von Aheim nach Beburg. Die eine Hälfte wird die Strecke über die Autobahn 111 wählen, die anderen fahren über Autobahn 222. Was passiert?
Von der Gleichheit ungleicher Wege
Nehmen wir an, Sie benötigen für die Hälfte einer der Strecken über die Autobahnen 111 oder 222 eine feste Fahrzeit von 20 Minuten. Die Dauer der anderen Streckenhälfte hängt von der Anzahl der Fahrzeuge ab, die diese benutzen.
Wenn also alle 200 Fahrzeuge nur die Autobahn 111 nutzen, dann verlängert sich dort die Fahrtzeit, weil die Dauer einer Teilstrecke vom Verkehrsaufkommen abhängt. Die Fahrtzeit beträgt dort dann ebenso 20 Minuten und die benötigte Gesamtzeit für die Strecke liegt bei 40 Minuten.
Da Sie dies wissen, sind Sie clever und fahren als einziger über die exakt gleichlange Strecke der Autobahn 222. Das ist für Sie dann selbstverständlich günstiger, weil Sie wesentlich schneller in Beburg ankommen. Auch die andere Fahrstrecke haben Sie ein wenig für die anderen Fahrer entlastet. Die anderen Fahrer sind dennoch viel länger unterwegs für die gleiche Fahrstrecke über die Autobahn 111.
Ihr Tun bleibt allerdings nicht lange unbemerkt. Am nächsten Morgen beobachtet Ihr Nachbar, wie Sie plötzlich eine andere Strecke fahren – und stellt in Beburg fest, dass Sie schon eine ganze Zeit vor ihm dort angekommen sein müssen. Übermorgen wird er es Ihnen gleichtun und ebenfalls über die Autobahn 222 fahren. Binnen Kurzem spricht es sich herum und rund die Hälfte der Fahrer aus Aheim fährt über die 111 und die andere Hälfte über die 222. Jeder Fahrer benötigt nun für die Fahrzeit über eine der beiden Autobahnen 30 Minuten.
Der clevere Stadtplaner
Eines Tages denkt der clevere Stadtplaner Smart, dass es doch sinnvoll sein könnte, die jeweils 20-minütigen Fahrstrecken zu umgehen und mit einer Verbindungsstraße die beiden Teilstrecken zu verknüpfen, bei denen die Fahrzeit verkehrsabhängig ist.
Auf der Autobahn 111 benötigen Sie für die erste Teilstrecke nämlich 20 Minuten und wählen dann die zweite Teilstrecke abhängig vom Verkehrsaufkommen. Auf der Autobahn 222 verhält es sich anders herum. Das finden die Aheimer zunächst sehr gut: Alle fahren nun über das erste Teilstück der Autobahn 222 und wechseln dann über die Verbindungsstraße auf den ansonsten schnelleren Streckenteil der Autobahn 111.
Unter diesen Umständen benötigen alle Fahrer insgesamt 40 Minuten Fahrtzeit. Der frühere Vorteil der Streckenabschnitte – nämlich die geringere Fahrdauer wegen des geringeren Verkehrsaufkommens – hat sich durch den Bau der gut gemeinten Verbindungsstraße in das Gegenteil verkehrt, weil mittlerweile alle diese Teilstrecken nutzen möchten.
Die längere Fahrzeit ist dann (fast) alternativlos
Nutzt man die beiden Streckenvarianten mit den fixen Fahrtzeiten von 20 Minuten, erhöht sich die Fahrdauer somit auf 40 Minuten. Der Vorteil läge höchstens bei den übrigen Fahrern, denen Sie mit Ihrer anderen Fahrstrecke einen minimalen Vorteil verschaffen würden. Sie sehen wahrscheinlich keinen Vorteil für sich darin, die anderen zu entlasten und deshalb aus reiner Freundlichkeit die 40 Minuten auf sich zu nehmen. Alle anderen Aheimer denken voraussichtlich ebenso.
Am besten wäre es dann, jeder würde wieder die Fahrstrecke wählen, die er im stabilen Zustand vor dem Neubau regelmäßig nutzte. Doch dies ist eher unwahrscheinlich. Da der Anreiz sehr hoch ist, als einziger von dieser Ideallösung abzuweichen, um über die neugebaute Straße den möglichen zeitlichen Vorteil zu nutzen, bleibt das System instabil.
Aus dem Neubau und der Erweiterung ist also für die Verkehrsteilnehmer kein Vorteil, sondern ein Nachteil entstanden.
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