
Bild: You may not elect to fail von Enokson. Lizenz: CC BY 2.0
Das Arrow-Paradoxon
Stellen Sie sich einmal eine 3000 Seelengemeinde vor. Sie sind der Bürgermeister und müssen im Ort eine Abstimmung über die Nutzung einer 5 Hektar großen Freifläche durchführen. Es stehen 3 Handlungsoptionen zur Auswahl.
- Ein Freibad
- Eine Sporthalle
- Ein Schießstand
Nun gibt es in Ihrem Ort drei Gruppen von Befürwortern:
- 900 Anwohner der Freifläche: Sie befürworten wegen des potentiellen Lärmes A) die Sporthalle, B) den Schießstand und C) das Freibad. Die Reihenfolge gibt die Präferenzstruktur der Gruppe wieder. So betrachten die Anwohner die Sporthalle als leise und damit als ideale Nutzung der Freifläche. Das Freibad hingegen ist vor allem im Sommer, wenn die Fenster geöffnet sind, sehr laut. Auf die Lärmbelästigung durch den Schießstand hingegen, könne man sich einstellen, weshalb der Schießstand eine mittlere Präferenz hat
- 1000 Schützen: Sie bevorzugen natürlich A) den Schießstand. Aus Kostengründen sehen sie B) das Freibad als nächstbeste Alternative, während sie C) die Sporthalle als zu teuer ablehnen.
- 1100 Andere hingegen befürworten zunächst A) das Schwimmbad , B) die Sporthalle und C) den Schießstand.
Leider handelt es sich um eine hitzige Ortsdiskussion und es wird Ihnen als Bürgermeister klar, dass die Entscheidungsfindung eine breite Mehrheit benötigt. Deswegen lassen Sie in zwei Schritten abstimmen. Im ersten Schritt werden zwei Alternativen zur Wahl gestellt. Der Sieger wird im zweiten Schritt mit der dritten Alternative zur Abstimmung gestellt.
Die 1. Abstimmung: Freibad vs. Schießstand
Anwohner und Schützen entscheiden sich, wie aus der Tabelle ersichtlich wird, für den Schießstand. Das Freibad verliert mit 1100 : 1900 Stimmen.
Die 2. Abstimmung: Sieger der 1. Abstimmung vs. Sporthalle
Während die Schützen ihren Schießstand wollen, wählen die Anwohner und die Anderen die Sporthalle. Mit einer 2/3-Mehrheit hat sich im Ergebnis die 3000 Seelengemeinde für die Sporthalle entschieden.
Ist das nun eine demokratische Wahl gewesen?
Wie bei vielen Dingen im Leben ist die Antwort: Es kommt drauf an!
Zunächst einmal muss die Frage erlaubt sein, warum nicht abschließend eine Abstimmung zwischen dem Freibad und der Sporthalle getroffen wurde. Die Antwort ist trivial. Denn wenn die Sporthalle den Schießstand schlägt und der Schießstand das Freibad, dann muss doch die Sporthalle auch das Freibad schlagen, oder? Hätte es die Abstimmung aber tatsächlich gegeben, so hätte das Freibad gewonnen.
Kenneth Arrow hat 1950 allgemein die Anforderung der Transitivität an Wahlsysteme formuliert. Die Schlussfolgerung – die Sporthalle muss auch besser als das Freibad sein, weil die Alternativen durch die 2 Abstimmungsrunden in eine Reihenfolge gebracht werden können – muss demnach in demokratischen Wahlsystemen erlaubt sein. In unserem Beispiel tritt jedoch das Paradox auf, dass tatsächlich gar keine Mehrheit für eine der drei Alternativen existiert hat!
Die ganze Wahl könnte nun leicht angezweifelt werden, wenn offenbar wird, dass Sie als Bürgermeister und ebenfalls als Anwohner der Freifläche mit der Entscheidung der Sporthalle zufrieden sind. Denn sicherlich kannten Sie auch die individuellen Präferenzstrukturen der Gruppen vor der Wahl. Sie waren schlau genug, die Sporthalle für die Schlussabstimmung zurückzustellen. So haben Sie die demokratische Wahl zur Farce gemacht, weil Sie wussten, welche Ergebnisse in den Abstimmungen zu erwarten gewesen sind. Sie haben sich einfach an folgende Regel gehalten:
Über diejenige Alternative, die Sie besonders präferieren, muss als letztes abgestimmt werden.
Nehmen Sie sich mal ein Blatt Papier und spielen Sie die Abstimmungsrunden einfach mal durch. Am Ende gewinnt immer die Alternative, über die erstmalig in der Schlussrunde abgestimmt wird.
Dass individuelle Präferenzen transitiv sind, ist eine ökonomische Grundannahme. So würden wir jede Person belächeln, die nach den beiden Abstimmungsrunden des Beispiels behaupten würde, das Freibad sei besser als die Sporthalle. Wir nehmen stattdessen (stillschweigend) die Transitivität der Alternativen an und behaupten, ganz demokratisch, dass die individuellen Präferenzen qua Abstimmung oder Wahl in eine kollektive und ebenfalls transitive Präferenz überführt werden.
Doch das ist falsch!
Ein Abstimmungs-Paradox liegt dann vor, wenn die kollektive Präferenz, trotz intransitiver Präferenzen, transitiv ist.
Das Beispiel zeigt, dass in Abhängigkeit der Reihenfolge der abzustimmenden Alternativen, ein paradoxes Wahlergebnis erreicht wird. Die Wahl ist immerhin noch fair, wenn der Bürgermeister die Auswahl der 1. Abstimmung (Freibad vs. Schießstand) zufällig vorgenommen hat. Aber auch dann ist das Wahlergebnis noch immer paradox.
Zum Ursprung des Arrow-Paradoxons
Lassen Sie sich nicht vom Namen des Paradoxons irreführen. Erstmalig hatte bereits der Mathematiker Condorcet über das Abstimmungs-Paradoxon geschrieben. Jedoch wurde seine Arbeit am Ende des 18. Jahrhunderts über lange Zeit ignoriert und es kamen weitere Entdecker hinzu.
Hier finden Sie alle Entdecker des Abstimmungs-Paradoxons:
- Marquis de Condorcet – 1785
- Dodgson / Pseudonym Lewis Carrol – Ende des 19. Jahrhunderts
- Nanson – 1907
- Black – 1948
- Arrow – 1950
Aufgrund seiner Entdecker hat das Abstimmungs-Paradoxon verschiedene Namen: Condorcet-Paradoxon, zyklische Mehrheiten und Arrow-Paradoxon sind im deutschsprachigen Raum synonyme Begriffe. Die Bekanntheit des Arrow-Paradoxons rührt daher, dass die paradoxen Abstimmungsergebnisse vor allem Wahrscheinlichkeitsprobleme sind, die mit bloßer Kopfleistung nicht bewerkstelligt werden können. Mit der aufkommenden EDV der 60’er Jahre wurde auf die theoretische Abhandlung von Kenneth Arrow zurückgegriffen.
Im angelsächsischen Raum ist hingegen das Arrow-Paradoxon unter dem Namen voters-paradox bekannt.
Auswege aus dem Paradoxon
Will man Entscheide über mehrere Alternativen auf demokratische Weise qua Abstimmung fällen, so muss man mit zwei Problemen rechnen: Einerseits mit einem paradoxen Entscheid oder mit einem Patt.
Die Arbeiten der Entdecker haben gezeigt, dass ein Abstimmungs-Paradoxon bei großen Kollektiven eher unwahrscheinlich ist. Interessant wird es bei kleinen Kollektiven von 3 bis 20 Mitgliedern. Unter „kleine Kollektive“ fallen beispielsweise Exekutiv-Behörden, Verwaltungsräte, Vereinsvorstände, kleine Aktionärsversammlungen, Parlamentskommissionen oder Richterkollegien. Die Wahrscheinlichkeit paradoxer Abstimmungen ist bei einer geraden Anzahl von stimmberechtigten Mitgliedern zudem ungleich höher, weil auch Patt-Situationen auftreten können.
Um die Wahrscheinlichkeit des Auftretens paradoxer Abstimmungsergebnisse zu minimieren, werden vier mögliche Regeln vorgeschlagen:
- Führen Sie Mehrheitsentscheide mit einer ungeraden Anzahl an Stimmberechtigten durch.
- Für den Fall eines Patts oder eines Abstimmungs-Paradox treffen Sie im Vorfeld eine bestimmte Regelung. Sie können einen Stichentscheid einführen, wodurch eine zu ernennende Person das Patt oder das Paradox brechen darf, indem eine konkrete Alternative in diesem Fall dem Wahlergebnis durch Stichentscheid vorgezogen wird.
- Privilegieren Sie eine Alternative im Vorfeld der Wahl, für den Fall eines Patts oder des Abstimmungs-Paradoxons.
- Lassen Sie im Falle eines Patts oder des Abstimmungs-Paradoxons das Los entscheiden.
Beachten Sie, dass es bei Mehrheitsentscheidungen in kleinen Kollektiven nicht möglich ist, die Wahrscheinlichkeit auf Null zu setzen. Je nach Ausgangslage kann es mit einer Wahrscheinlichkeit von 5-10% zu einer paradoxen Entscheidung kommen.
Fazit
Sie wissen nun, was es mit dem Arrow-Paradoxon auf sich hat. Wenn Sie zukünftig im kleinen Kreis eine Entscheidung demokratisch herbeiführen wollen, dann machen Sie dem Kreis bewusst, dass es durchaus zu paradoxen Entscheidungen kommen kann und treffen Sie für diese Fälle eine gesonderte Entscheidungsregel.
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