Professor Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten Philosophen Deutschlands. Gibt es in Deutschland wirklich zu viele Studenten? Der ehemalige Kulturstaatsminister behauptet, dass der Akademisierungswahn den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährdet. Worin der Akademisierungswahn besteht und welche Konsequenzen daraus entstehen, lesen Sie im folgenden Beitrag.
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(© by Anne Retter)


Vor zwei Jahren stieß er in einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Debatte zum Akademisierungswahn mit an. Im Oktober 2014 veröffentlichte er das Essay „Der Akademisierungswahn – Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung”.

Was ich der Bildungspolitik aller Parteien […] vorwerfe, ist, dass sie einen Weg eingeschlagen hat, der dazu führen könnte, die einzigartige Qualität des deutschen Bildungssystems zu beschädigen oder zu zerstören – nämlich die Herausbildung einer exzellenten Facharbeiterschaft, die alle Schichten der Gesellschaft aufnimmt.

„Die duale Ausbildung muss dieselbe Wertschätzung in der Gesellschaft genießen wie ein Studium“, sagt Nida-Rümelin. Er  vertritt die kontrovers diskutierte These, der Akademisierungswahn habe zur Krise sowohl der beruflichen wie auch der akademischen Bildung geführt.

Viele junge Menschen haben sich verunsichern lassen, glauben, ohne Hochschulreife und Studienabschluss keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Vermittelt wurde ihnen das nicht zuletzt durch Stellenbeschreibungen, Erfahrungen im Vorstellungsgespräch oder der Erkenntnis, dass heute mancher Arbeitgeber lieber einen Abiturienten als Auszubildenden einstellt, als Absolventen anderer Schultypen.

Dabei zahlt es sich häufig aus, junge Menschen mit mittlerem Bildungsabschluss oder eventuell Hauptschulabschluss einzustellen, denn die bleiben anschließend eher im Betrieb. Ihre Schulen haben sie praktischer orientiert ausgebildet, und sie befassen sich deutlich früher mit dem Thema Berufswahl. Es ist also an den Unternehmen – und insbesondere den HR-Departments – das Bild gerade zu rücken.

Worin besteht dieser Akademisierungswahn?

Der Akademisierungswahn besteht aus sechs grundsätzlichen Wahnideen, führt der Professor aus, nämlich:

  1. Abitur und Studium sind in Zukunft der Normalfall.
  2. Nichtakademische Abschlüsse und Berufe sind geringwertiger.
  3. Der Anteil tertiärer Bildung ist zentrales Qualitätsmerkmal von Bildungssystemen.
  4. Der Anstieg der Akademikerzahlen ist unbegrenzt erwünscht.
  5. Die möglichst weitgehende Verlagerung beruflicher Bildungswege an die Hochschulen ist anzustreben.
  6. Ohne Abitur und Studium droht der sozioökonomische Abstieg.

Diese Vorstellungen stützen sich auf die Statistiken der OECD, die Nida-Rümelin für schlicht unrichtig hält. Das belegte er anhand eines Beispiels aus den USA. Während die OECD verbreite, dass der Anteil von Menschen mit akademischer Bildung in den Vereinigten Staaten deutlich höher sei als in Deutschland, lägen die Fakten so:

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(© by Anne Retter)

83 Prozent der Akademiker in den USA studieren an Einrichtungen ohne Forschungsbetrieb. City Colleges bilden in vier Semestern oberflächlich und ohne Praxisbezug junge Menschen aus, die damit als Akademiker gelten, in der Realität jedoch weit entfernt vom Niveau eines Absolventen in Deutschland  seien, der eine Berufsausbildung im dualen System durchlaufen habe.

Das Ganze sei also ein großes Missverständnis der internationalen Vergleiche. Die irrige Vorstellung, dass eine möglichst hohe Quote an Akademikern anzustreben sei, gehe außerdem auf einen bildungsökonomischen Denkfehler mit langer Tradition zurück.

Ein Denkfehler mit Konsequenzen

Dieser lautet: Wenn Akademiker im Durchschnitt für ein höheres BIP pro Kopf sorgen, führt eine höhere Quote von Akademikern zu einem insgesamt höheren BIP. Das, sagt Nida-Rümelin, ist schlicht mathematisch falsch gedacht. Auch diese These kann er anhand der Statistik zur Akademikerquote und ökonomischem Erfolg im europäischen Vergleich von 2011 belegen:

Die Jugendarbeitslosigkeit ist tendenziell in den Ländern höher, in denen die Akademikerquote höher ist; ein Beispiel dafür ist Großbritannien. Möchten wir wirklich eine größere Zahl von Akademikern mit einer Jugendarbeitslosigkeit erkaufen, die – am Beispiel Großbritanniens – doppelt so hoch ist wie derzeit in Deutschland?

Bisher sind von einem Jahrgang etwa 40 Prozent der jungen Menschen ins Studium gegangen, 60 Prozent mündeten in die duale Berufsausbildung. Nun geht der Trend zu einem genau umgekehrten Verhältnis, begleitet von der politischen Forderung, die Quote der Studienabbrecher solle verringert werden. In diesem Jahr gibt es erstmals mehr Studienanfänger als Auszubildende.

Dadurch wächst der Druck auf Hochschulen, ihre Standards zu senken, damit möglichst alle Studierenden auch einen Abschluss erreichen. Nach Ansicht des Münchner Philosophen gibt es allerdings inzwischen ohnehin nicht mehr viel Spielraum nach unten.

In ihrer Schmalspurigkeit und mit ihrer jedenfalls in den Geisteswissenschaften albernen Berufsorientierung wird mit einem solchen Bachelor oftmals nicht einmal die Befähigung zu einem wissenschaftlichen Studium erworben.

Der Bolgona-Prozess sah vor, dass 80 Prozent der Studierenden nach einem kurzen Bachelor-Studium in den Arbeitsmarkt münden. Der umgekehrte Fall ist jedoch eingetreten, der größte Teil der Studierenden strebt im Anschluss einen Master-Abschluss an.

Die Studiendauer hat sich also nicht verkürzt, und auch die Abbrecherquote ist eher gestiegen als gesunken. Anhand der Statistik ist dies nachzuvollziehen: Ab der Einführung im Jahr 2000 gab es einen Anstieg der Studienanfänger bis etwa 2003. Dann, sagt Nida-Rümelin, setzte die große Ernüchterung ein, und die Quote sank auf das ungefähre Ausgangsniveau zurück.

Die große Verunsicherung durch die Wirtschaftskrise

Die Quote sank bis 2007, wo ein sprunghafter Anstieg zu verzeichnen ist. Was hat diesen verursacht? Bildungspanik, meint Nida-Rümelin. Die Wirtschaftskrise schlug zu, und nun glaubten viele, ein Studium öffne die Türen zu sicheren Jobs und gutem Einkommen.

Bologna war ohnehin keine gute Idee, findet er. Einen globalen Markt vergleichbarer Abschlüsse zu schaffen möge im Interesse mancher großen Unternehmen sein, sei jedoch für die Vielfalt der Bildungstraditionen und -kulturen eher schädlich. Auch das ganze Pisa-Programm sei auf berufliche Verwertbarkeit und nicht auf Persönlichkeitsbildung ausgerichtet gewesen.

Darüber hinaus: Deutschland ist im Gegensatz zu Großbritannien oder Frankreich nicht deindustrialisiert, die Rolle des verarbeitenden Gewerbes und der mittelständische Wirtschaft haben hierzulande eine weit größere Relevanz als in Skandinavien oder den USA. In Deutschland bilden bisher Nicht-Akademiker den größten Teil der Mittelschicht – das ist im Ausland anders.

Die Mär vom gut bezahlten, stets gefragten Akademiker

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(© by Anne Retter)

Nida-Rümelin sieht schwerwiegende Probleme auf die Bundesrepublik zukommen, wenn der aktuell beschrittene Weg so fortgeführt wird. Die Durchlässigkeit des Systems muss auch von „oben“ nach „unten“ gewährleistet sein, fordert er.

Welchen Weg ein junger Mensch beruflich einschlage, solle von seinen Interessen und Talenten abhängen, und nicht vom vermeintlichen Prestige. Auch nicht vom möglichen Einkommen: Es sei ohnehin ein Märchen, dass Akademiker durchweg besser verdienen und seltener arbeitslos sind. Geisteswissenschaftler verdienen im Vergleich zu nichtakademischen Fachkräften oft höchstens ähnlich viel oder sogar weniger.

Aktuell hätten jedoch auch Biologen, Geografen, Juristen und viele andere Disziplinen große Probleme, an Stellen zu kommen. Mediziner, aber insbesondere Ingenieure und Informatiker seien diejenigen, die gut bezahlt und gesucht seien. Noch. Denn auch da wird der Markt alsbald gesättigt sein, erklärt Nida-Rümelin.

Kognitive Kompetenzen sind wichtig, aber nicht alles! Das Schulsystem soll differenzieren, nicht selektierten.

Einen Ausweg aus der Krise sieht Nida-Rümelin darin, dass allgemeinbildenden Schulen keine spartenspezifische Verengung mehr vornehmen und der Bildungsauftrag erweitert wird. Er spricht sich gegen verfrühte Festlegungen und für ein längeres gemeinsames Lernen von Kindern aus.

Es ist nicht sinnvoll, nur wissenschaftliche, akademische Qualifikationen zu fördern und als wünschenswert hervorzuheben, und dadurch faktisch alle kreativen, technischen, kaufmännischen, handwerklichen und sozialen Talente junger Menschen zu missachten.

„Viel Spaß mit den Astronomen, die die fehlenden Elektroniker ersetzen sollen!“, ruft Nida-Rümelin provokant mit Blick auf den Verlust von annähernd 5 Millionen Erwerbspersonen im nicht-akademischen Bereich bis 2030 – bei einem gleichzeitig erwarteten Plus von 1,7 Millionen Akademikern.

Quo vadis, Deutschland?

Für die berufliche Bildung wäre ein höherer Anteil an Allgemeinbildung wünschenswert, sowie eine Wissenschaftsorientierung in dem Sinne, dass ein Facharbeiter wissenschaftliche Ergebnisse seines Fachgebietes verstehen und auswerten kann.

Für die akademische Bildung wünscht sich der Professor, dass das hohe Niveau gehalten wird und die Fakultäten ein Recht haben, geeignete Bewerber auszuwählen – man müsse die Wissenschaftsorientierung wieder herstellen; ein Ingenieur mit mittelmäßigen mathematischen Fähigkeiten sei schlicht keine gute Idee.

Wir müssen uns schon die Frage stellen: Macht eine Erzieherin einen wichtigen Job? Ja! Übt sie eine qualifizierte Tätigkeit aus? Ja! Brauchen wir diesen Beruf? […] Wie kommen wir dann dazu, sie so miserabel zu bezahlen, dass eine Erzieherin sich eine Stadt wie München praktisch nicht leisten kann und wir entsprechend einen großen Arbeitskräftemangel in diesem Bereich in den Großstädten haben?

Am Wichtigsten aber, sagt Nida-Rümelin, ist ein Umdenken innerhalb der Gesellschaft. Es gehe um Respekt und Achtung füreinander, um dieselbe Wertschätzung akademischer wie nichtakademischer Berufe. Auch der Arzt lebt schließlich gerne in einem Haus, das ein gedecktes Dach hat.

Quellen

http://www.faz.net/aktuell/politik/portraets-personalien/im-gespraech-julian-nida-ruemelin-wir-sollten-den-akademisierungswahn-stoppen-12554497.html

http://www.zeit.de/2015/16/geisteswissenschaften-universitaeten-bologna Vortrag vom 15. Juni 2015 vor dem Arbeitskreis Schule Wirtschaft

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Ein Gedanke zu „Darum gefährdet der Akademisierungswahn den Wirtschaftsstandort Deutschland

  • Nur Ich

    Der Analyse der momentanen Situation kann ich durchaus zustimmen. Was mir allerding im obigen Artikel zu kurz kommt ist die Ursachenforschung der Überakademisierung. Die Forderungen der Politik nach mehr Akademikern sind ja nun offenbar auf sehr fruchtbaren Boden gefallen und viele Eltern haben ihren Kindern diesen Weg ja fast schon aufgezwungen. Vielleicht weil diese in einer Arbeitswelt aufwuchsen, die – in damaligen Verhältnissen gesprochen- Facharbeiter wie bessere Lohnsklaven behandelte und oft schon Jahre vor der Rente verschlissen hat?! Warum nun also den jungen Menschen einen vermeindlich undankbaren, ungesunden und prestigelosen „Knochenjob“ in Handwerk oder Industrie anraten, wenn der damalige „Chef“ mit seinem Diplom oder Doktor auch ohne schmutzige Hände und Berufskrankeiten im jeweils neuen A8 oder 7er zur Firma fuhr?!
    Wenn die Wirtschaft es wirklich benötigte, wären gebildete junge Menschen aller Studienfächer schnell als Quereinsteiger oder Trainees auf die fehlenden Stellen eingelernt, wie es früher ja oft noch der Fall war. Die Bereitschaft seitens der Jugend wäre sicherlich da, wenn man ihr im Gegenzug auch ein würdevolles Arbeitsumfeld bietet und Ihnen genug Geld zum Aufbau ihrer eigenen Existenz zahlt.
    Das massive Gejammere der Arbeitgeber in Deutschland lässt vermuten, dass man aber eben dieses nicht bieten möchte und lieber auf die Politik einredet, doch bitte wieder weniger Bildung unters Volk zu bringen.