Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine neurodegenerative Erkrankung des ersten und zweiten Motoneurons. Die Krankheit ist daher durch das gleichzeitige Auftreten von typischen Symptomen der unterschiedlichen Läsionshöhen gekennzeichnet, zum Beispiel ein Nebeneinander von schlaffen und spastischen Paresen. Die Diagnose wird klinisch gestellt. Es gibt derzeit keine kausale Therapiemöglichkeit, daher erfolgt die Behandlung rein supportiv und palliativ. Die Erkrankung verläuft progredient bis zum Tod durch respiratorische Insuffizienz.

Aktualisiert: 05.04.2023

Redaktionelle Verantwortung: Stanley Oiseth, Lindsay Jones, Evelin Maza

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Überblick

Definition

  • Neurodegenerative Erkrankung, an der sowohl das erste als auch das zweite Motoneuron beteiligt sind
  • Fortschreitende Erkrankung, die zu Lähmungen und letztendlich zum Tod führt
  • Die Krankheit ist nicht heilbar.

Klassifikation

  • Sporadisch: keine weiteren bekannten Fälle der Krankheit innerhalb einer Familie
  • Familiäre ALS: Gehäuftes Auftreten der Krankheit innerhalb einer Familie

Epidemiologie

  • Häufigste progrediente Erkrankung der Motoneuronen
  • Ein Teil der Fälle wird autosomal-dominant vererbt.
  • Inzidenz: Etwa 3 pro 100.000 in Deutschland
  • Geschätzte Zahl Erkrankter in Deutschland: 6.000-8.000
  • Alter bei Beginn: 40-60 Jahre
  • Männer* > Frauen*

Risikofaktoren

  • Alter
  • Familiäre Vorbelastung
  • Rauchen

Ätiologie

Die Ursache der sporadischen ALS ist unbekannt. Es gibt jedoch mehrere Faktoren, die eine Rolle spielen können:

  • Instabilität der mutierten Superoxiddismutase Typ 1 (SOD1), die zu einer Toxizität durch freie Radikale führt
  • Mutationsbedingte Störungen von RNA-Processing, -Transport und -Stoffwechsel:
    • C9ORF73
    • TDP-43
    • FUS
  • Entzündungsreaktionen
  • Beschleunigter Zelltod Zelltod Zellschäden und Zelltod
  • Erhöhte Glutamat-Konzentrationen
  • Familiäre Form assoziiert mit:
    • C9ORF72-Mutation
    • SOD1-Mutation

Pathophysiologie

Der genaue Entstehungsmechanismus der ALS ist unbekannt. Es scheint sowohl auf molekularer, als auch auf genetischer Ebene Pathways zu geben, die in Kombination eine Apoptose der ersten und zweiten Motoneurone verursachen.

  • Molekulare Ebene:
    • Verminderte Aufnahme von Glutamat aus dem synaptischen Spalt verursacht Exzitotoxizität durch Glutamat
    • Bedingt durch eine Funktionseinschränkung des exzitatorischen Aminosäure-Transporter 2 (EAAT2) auf Astrozyten
    • Neurodegeneration vermittelt über Ca 2+-abhängige enzymatische Signalwege
  • Genetik Genetik Grundbegriffe der Genetik:
    • Mutationen in folgenden Genen:
      • C9ORF72
      • TDP-43
      • FUS
      • SOD1
    • Fehlregulation des RNA-Stoffwechsels durch Mutationen:
    • Mutation im SOD1 -Gen:
      • Verursacht eine Dysfunktion der Mitochondrien
      • Vermehrt freie Radikale → oxidativer Stress
      • Weitere Akkumulation intrazellulärer Aggregate
      • Gestörter axonaler Transport
  • Aktivierung vom Mikrogliazellen:
    • Sekretion proinflammatorischer Zytokine
    • Zytokine tragen weiter zur Neurotoxizität bei
Pathophysiologischer Mechanismus von ALS

Theorien zur zellulären Pathophysiologie der ALS:
1. Die Exzitotoxizität von Glutamat induziert intrazelluläre neurodegenerative enzymatische Prozesse.
2. Die durch Mikrogliazellen vermittelte Aktivierung von Monozyten verursacht die Sekretion proinflammatorischer Zytokine.
3. Spezifische Genmutationen verursachen eine abnorme RNA-Translation, die zu einer intranukleären und zytoplasmatischen Proteinaggregation führt (4).
5. Es kommt zu einer mitochondrialen Dysfunktion, die es den Neuronen unmöglich macht, sich an oxidativen Stress anzupassen.
6. Intrazelluläre Aggregate beeinträchtigen den axonalen Transport.
7. Ein beeinträchtigter axonaler Transport führt zu einer ineffektiven Aktivierung der neuromuskulären Endplatte.

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Klinik

Anamnese

  • Betroffene berichten über:
    • Muskelschwäche
    • Krämpfe am frühen Morgen
    • Ganginstabilität
    • Fallneigung mit Stürzen
    • Schwäche beim Gehen
    • Steifigkeit der betroffenen Extremität(en)
    • Koordinationsstörungen der betroffenen Extremität(en)
  • Schmerzen:
    • Häufig aufgrund von Muskelspastik oder eingeschränkter Mobilität
    • Traumatische Verletzungen durch Stürze sind ebenfalls eine häufige Schmerzursache.
  • Die durchschnittliche Zeit zwischen Auftreten der ersten Symptome und der Diagnose beträgt etwa 1 Jahr.

Körperliche Untersuchung

Beim üblichen natürlichen Krankheitsverlauf sind mit der Zeit immer mehr Muskelgruppen betroffen, beginnend mit einer asymmetrischen Verteilung der Paresen, später symmetrisch.

Neurologische Untersuchung

  • Simultanes Auftreten von Symptome einer Schädigung des ersten und des zweiten Motoneurons
  • Bei progressiver Bulbärparalyse (bulbäre Form):
    • Sprechstörungen (z. B. Dysarthrie)
    • Dysphagie Dysphagie Dysphagie und Sialorrhoe durch progrediente Schwäche der Kau- und Schlundmuskulatur mit Schluckstörung
  • Frontotemporale Demenz Demenz Demenz: Schwerwiegende neurokognitive Störungen (Frontallappendysfunktion):
    • Frühe Verhaltensauffälligkeiten und Persönlichkeitsveränderungen
    • Gewichtsverlust (Prädiktor für ein schlechtes Outcome)
    • Beeinträchtigung exekutiver Funktionen
    • pathologisches Lachen und Weinen (pseudobulbärer Affekt)
  • Obstipation Obstipation Obstipation durch Immobilität
  • Auftreten extrapyramidaler Symptome und Parkinsonismus möglich
  • Auf Schwäche folgt mit Fortschreiten der Krankheit Muskelatrophie.
Tabelle: Symptome der Motoneuronenschädigung bei ALS
Schädigung des 1. Motoneurons Schädigung des 2. Motoneurons
Asymmetrische Paresen (frühestes Zeichen) kann beiden zugeschrieben werden.
  • Spastik
  • Spastische Gangstörung
  • Spontaner Klonus
  • Hyperreflexie
  • Muskelatrophie
  • Faszikulationen (gute Spezifität)
  • Proximale Arm- und Beinparese
  • Eingeschränkter Zehen- und/oder Hackengang
  • Eingeschränktes Aufstehen vom Stuhl
  • Steppergang
  • Watschelnder Gang
  • Hyporeflexie

Diagnostik

Die Diagnose wird klinisch gestellt, aber Labortests und Bildgebung werden in der Regel zum Ausschluss anderer Krankheiten durchgeführt.

Diagnosekriterien

Die spezifischen Kriterien für die Diagnose der ALS der World Federation of Neurology.

Einschlusskriterien:

  • Klinischer, elektrophysiologischer oder neuropathologischer Nachweis einer Degeneration des 1. Motoneurons
  • Klinischer, elektrophysiologischer oder neuropathologischer Nachweis einer Degeneration des 2. Motoneurons
  • Hinweise auf eine Ausbreitung oder Intensivierung der Symptome innerhalb einer Region oder auf andere Regionen

Ausschlusskriterien:

  • Elektrophysiologische oder histologische Hinweise auf andere Krankheitsprozesse, die die Degeneration des Motoneurons erklären könnten
  • Befunde in bildgebender Diagnostik für andere Krankheiten, die die beobachteten klinischen und elektrophysiologischen Symptome erklären könnten

Laboruntersuchungen

Wird verwendet, um andere Störungen auszuschließen und umfasst:

Elektromyographie (EMG)

Der Nachweis einer akuten und chronischen Denervation und chronischen Reinnervation stützt die ALS-Diagnose.

Bildgebende Diagnostik ( MRT MRT Magnetresonanztomographie (MRT))

  • Wird hauptsächlich verwendet, um andere Krankheiten auszuschließen
  • Befunde im Zusammenhang mit ALS (T2-gewichtet):
    • Verminderte Intensität des motorischen Kortex
    • Hyperintense Läsionen der kortikospinalen Bahnen

Genetische Untersuchung

Therapie

Keine kausale Behandlung. Die derzeit mögliche Behandlung ist supportiv.

Atemunterstützung

  • Die nichtinvasive Beatmung Nichtinvasive Beatmung Nicht-invasive Beatmung (NIV) (NIV) kommt infrage, bei Symptomen der chronischen Hypoventilation oder bei Hyperkapnie
  • Eine invasive Beatmung kann unter strenger Indikationsstellung, nach Betrachtung der individuellen Situation und Beachtung des Patient*innenwillens, in Betracht gezogen werden.

Medikamentöse Therapie

Die medizinische Therapie richtet sich nach der zugrunde liegenden Erkrankung und dem klinischen Erscheinungsbild.

Nicht-medikamentöse Therapie

Ernährung:

  • Angemessene Nahrungsergänzung mit kalorienreichen Lebensmitteln
  • Eine perkutane Gastrostomie sollte bei fortschreitender Erkrankung in Betracht gezogen werden, um die Auswirkungen einer Dysphagie Dysphagie Dysphagie (z. B. Gewichtsverlust oder Aspiration) zu verringern.

Psychotherapie Psychotherapie Psychotherapie:

  • Beim Auftreten von Depressionen oder Angst, als Alternative oder in Kombination zur pharmakologischen Therapie

Physiotherapie, Ergotherapie und Kommunikationshilfen:

Das übergeordnete Ziel dieser Therapien ist es, Aktivitäten des täglichen Lebens möglichst lange zu ermöglichen. Dazu werden unterschiedliche Hilfsmittel verwendet, zum Beispiel ein Rollstuhl, Orthesen, Alphabettafeln oder elektronische Kommunikationshilfen.

Betreuung am Lebensende/palliative Versorgung

  • Der Patient*innenwille in Bezug auf lebensverlängernde Maßnahmen und Betreuung am Lebensende sollte in einer Patient*innenverfügung festgehalten werden, sobald die Diagnose gestellt wird (z. B. zur Einstellung einer Beatmung oder einer enteralen Ernährung über Magensonde oder PEG-Sonde).
  • Opioide Opioide Opioid-Analgetika und Benzodiazepine Benzodiazepine Benzodiazepine werden zur symptomatischen Behandlung von Dyspnoe Dyspnoe Dyspnoe (Atemnot/Luftnot) und Angstzuständen eingesetzt.
  • Eine Palliativversorgung kann auch ambulant im häuslichen Umfeld stattfinden.

Komplikationen

  • Respiratorische Insuffizienz mit Bedarf an Beatmungsunterstützung
  • Kachexie
  • Progredienter Funktionsverlust

Prognose

  • Progredienter Verlauf ohne kausale Therapiemöglichkeit
  • Mediane Überlebenszeit nach Diagnosestellung: 3–5 Jahre
  • Gewichtszunahme, jüngeres Alter und peripher-motorische Symptomatik sind mit einem verlängerten Überleben assoziiert.
  • Mindestens 30 % der Patient*innen entwickeln eine kognitive Beeinträchtigung.
  • Betroffene versterben schließlich an respiratorischer Insuffizienz.

Differentialdiagnosen

  • Spinale Muskelatrophie Spinale Muskelatrophie Spinale Muskelatrophie (SMA) (SMA): Eine Gruppe autosomal-rezessiv vererbter Syndrome, gekennzeichnet durch progressive proximale Muskelschwäche und Atrophie aufgrund von Degeneration der Vorderhornzellen im Rückenmark Rückenmark Rückenmark und motorischen Kernen im unteren Hirnstamm Hirnstamm Hirnstamm. Es gibt 5 klinische Arten von SMA, jede mit ihrem charakteristischen klinischen Erscheinungsbild. Die Diagnose wird zuerst klinisch gestellt und dann mittels Gentest gesichert. Die Therapie ist meist supportiv und die Prognose ist abhängig vom klinischen Typ.
  • Myasthenia gravis Myasthenia gravis Myasthenia gravis: Eine Autoimmunerkrankung, gekennzeichnet durch Schwäche und Ermüdbarkeit der Skelettmuskulatur Skelettmuskulatur Muskelphysiologie der Skelettmuskulatur, verursacht durch eine antikörper-vermittelte Dysfunktion/Zerstörung von Acetylcholinrezeptoren an der motorischen Endplatte. Betroffene klagen über Müdigkeit, Ptosis, Diplopie Diplopie Strabismus, Dysphagie Dysphagie Dysphagie, Atembeschwerden und fortschreitender Schwäche der Gliedmaßen, die zu Bewegungseinschränkungen führen. Die Diagnose wird klinisch gestellt und durch elektrophysiologische Untersuchungen bestätigt. Die Behandlung erfolgt mit Acetylcholinesterase-Hemmern und Immuntherapien.
  • Lambert-Eaton-Syndrom: Autoimmunerkrankung der motorischen Endplatte mit Assoziation zum kleinzelligen Bronchialkarzinom. Dieses Syndrom betrifft die spannungsgesteuerten Kalziumkanäle an der präsynaptischen Membran und zeigt sich mit einer proximale Muskelschwäche und Symptomen einer autonomen Dysfunktion wie Mundtrockenheit und träger Pupillenreflexe. Die Diagnostik umfasst elektrophysiologische Untersuchungen und den Nachweis spezifischer Antikörper. Die Behandlung erfolgt durch Behandlung der Grunderkrankung oder mittels Kaliumkanalblockern und Immunsuppressiva Immunsuppressiva Immunsuppressiva.
  • Poliomyelitis Poliomyelitis Poliovirus/Poliomyelitis: durch das Poliovirus Poliovirus Poliovirus/Poliomyelitis verursachte Infektionskrankheit. Die Mehrheit der infizierten Personen mit Poliomyelitis Poliomyelitis Poliovirus/Poliomyelitis bleiben asymptomatisch oder entwickeln grippeähnlichen Symptomen. Ein kleiner Teil der Infizierten entwickelt eine paralytische Poliomyelitis Poliomyelitis Poliovirus/Poliomyelitis mit neurologischer Symptomatik (einschließlich asymmetrischer schlaffer Lähmungen). Die Diagnose wird durch das klinische Erscheinungsbild gestellt und kann durch Nachweis des Virus gestützt werden. Aktuelle antivirale Medikamente sind nicht wirksam und die Therapie erfolgt rein symptomatisch. Durch eine weltweite Impfkampagne konnte diese Krankheit fast ausgerottet werden.
  • Thyreotoxische Krise: Klassische Manifestation einer plötzlichen überschießenden Ausschüttung von Schilddrüsenhormonen. Eine thyreotxische Krise ist nicht gleichbedeutend mit einer Hyperthyreose Hyperthyreose Thyreotoxikose und Hyperthyreose, kann sich jedoch auf deren Grundlage entwickeln. Klinische Symptome einer thyreotoxische Krise sind meist auf eine Erhöhung der Stoffwechselrate und eine Überaktivität des sympathischen Nervensystems zurückzuführen und können Muskelschwäche, Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma Koma Koma beinhalten. Die Behandlung erfolgt unter intensivmedizinischer Überwachung mittels Thyreostatika Thyreostatika Thyreostatika und symptomatischer Therapie. Ultima Ratio ist eine Thyreoidektomie.

Quellen

  1. Brotman, R.G., Moreno-Escobar, M.C., Joseph, J., Pawar, G. (2021). Amyotrophic lateral sclerosis. StatPearls. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK556151/
  2. Huppert L.A., Dyster T.G. (Eds.). (2021). Diseases & pathophysiology in neurology. Chapter 12-04 of Huppert’s Notes: Pathophysiology and Clinical Pearls for Internal Medicine. McGraw-Hill. https://accessmedicine.mhmedical.com/content.aspx?sectionid=257403728&bookid=3072&Resultclick=2 
  3. Brown, R.H., Jr. (2018). Amyotrophic lateral sclerosis and other motor neuron diseases. Chapter 429 of Jameson J.L., et al. (Ed.), Harrison’s Principles of Internal Medicine, 20th ed. https://accessmedicine.mhmedical.com/content.aspx?bookid=2129&sectionid=192532519
  4. Fearon, C., Murray, B., Mitsumoto, H. (2022). Disorders of Upper and Lower Motor Neurons. In: Jankovic J., et al. (Ed.), Bradley’s Neurology in Clinical Practice. 5th ed., pp. 1535–1567. 
  5. Elman, L.B., McCluskey, L. (2021). Clinical features of amyotrophic lateral sclerosis and other forms of motor neuron disease. UpToDate. https://www.uptodate.com/contents/clinical-features-of-amyotrophic-lateral-sclerosis-and-other-forms-of-motor-neuron-disease
  6. Ratti, E. (2015). Motor neuron diseases. DeckerMed Medicine. http://dx.doi.org/10.2310/PSYCH.6266 (Zugriff am 8. August 2021).
  7. Muscular Dystrophy Association. (2021). Amyotrophic lateral sclerosis (ALS). https://www.mda.org/disease/amyotrophic-lateral-sclerosis/diagnosis
  8. Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). In: Gehlen WDelank HEger KMüller TZierz S, Hrsg. Neurologie. 12., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2010. doi:10.1055/b-002-11377
  9. Deutsche Gesellschaft für Neurologie (2021) S1-Leitlinie „Motoneuronerkrankungen“ https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-001.html (Zugriff am 20. April 2022).
  10. Herold, G. (2021). Innere Medizin. (S. 760-763)

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