Inhaltsverzeichnis

Bild: „Beratung beim Arzt“ von TÜV SÜD. Lizenz: CC BY-ND 2.0
Besonderheiten medizinischer Entscheidungen
Gross und Löffler weisen in den „Prinzipien der Medizin“ (1997) auf eine gravierende Besonderheit in der Medizin hin: Folgenschwere Entscheidungen müssen auch dann getroffen werden, wenn die Problematik nicht ausreichend definiert ist. Am besten können Sie sich das anhand der Notfallmedizin (Video zu Diagnose im Rettungsdienst) verdeutlichen. Unklare Befunde und Verläufe sind jedoch auch in anderen Fachgebieten häufig – selten stellt sich alles so klar dar, wie im Lehrbuch.
Medizinische Entscheidungen sind häufig Risikoentscheidungen.
Der Handlungsdruck im Mediziner-Alltag lässt meist keine aufschiebenden Entscheidungen zu. Oft geht es vorrangig darum, den Schaden zu minimieren und den Erfolg zu maximieren.
Arten der diagnostischen Entscheidung
Indikationsstellung
Alle Indizien, Zeichen, Beobachtungen und Befunde fügen sich zu einem Gesamtbild zusammen und resultieren in einem Handlungsplan. Die Diagnose stellt keinen punktuellen Arbeitsschritt dar, sondern eine zeitliche und inhaltliche Arbeit in Entwicklung. Durch die initialen Informationen aus Erstgespräch, Anamnese, Verhaltensbeobachtung und Überweisungsberichten bildet der Diagnostiker Hypothesen, die im Verlauf systematisch überprüft werden.
Funktion der Diagnose
Die Diagnose erfüllt mehrere Aufgaben:
- Verständigung unter Fachkollegen: Der terminus technicus erleichtert, vereinfacht und ökonomisiert die Kommunikation unter Fachkollegen. Meist hat bereits eine Summe von Vorüberlegungen zu diesem spezifischen Begriff geführt und der Kollege kann nur durch den verwendeten Begriff die diagnostischen Entscheidungsschritte nachvollziehen.
- Wichtige Bedeutung für den Patienten: Das diagnostische Etikett kann entlasten (Alkoholkranker statt „Säufer“) oder stigmatisieren (psychiatrische Diagnose in Bewerbungsunterlagen).
- Abrechnung: Für die Krankenkassen und die kassenärztlichen Vereinigungen dient die codierte Diagnose als Grundlage für die Abrechnung.
Arten der Diagnostik
Drei Arten der Diagnostik werden unterschieden:
- Indikationsdiagnostik: VOR der Therapie
- Prozessdiagnostik: WÄHREND der Therapie
- Ergebnisdiagnostik: NACH der Therapie
Indikationsdiagnostik
Die Indikationsdiagnostik (auch Eingangsdiagnostik): Aufgrund bestimmter Indikatoren schlussfolgert der Arzt, dass eine Krankheit oder psychische Störung vorliegt. Im Gegensatz zum kurativen zielgerichteten Ansatz in der Medizin, gestaltet sich die Diagnosefindung und das therapeutische Ziel in der Psychotherapie weitaus schwieriger.
Durch prognostische und selektive Indikation soll für bestimmte Störungsbilder eine geeignete Therapiemethode ermittelt werden. Meistens wählt jedoch schon der Patient im Voraus den Therapeuten aus und entscheidet sich so gleichzeitig für eine bestimmte Therapierichtung.
Prozessdiagnostik
Die Prozessdiagnostik verläuft begleitend zur Therapie und leistet die adaptierende „Feinarbeit“, begleitend zur eingeleiteten Therapie. Zwischenergebnisse sind wichtig, vor allem bei Behandlungsmethoden, die große Schwankungen in ihrer Wirksamkeit aufweisen. Sinnvoll sind zum Beispiel die Messungen bestimmter Parameter täglich im Blut oder Urin, um Medikamentendosierungen richtig anzupassen.
Die Psychotherapie verwendet prozessdiagnostisch Fragebögen, die z.B. nach Verbesserung/Verschlechterung in Bezug auf therapeutische Interventionen fragen.
Ergebnisdiagnostik
Durch die Ergebnisdiagnostik wird der Erfolg einer therapeutischen Entscheidung evaluiert. Um Ergebnisse prüfen zu können, müssen vor der Therapie die Ziele definiert und operationalisiert werden. Die therapeutischen Ziele sollten konkret und überprüfbar sein wie: „Ich möchte in meinem Beruf bei den Präsentationen in größerer Runde keine Angst mehr haben, entblößt und blamiert zu werden.“ statt „Ich möchte keine Angst mehr haben.“
Therapieentscheidungen
Chancen und Risiken müssen vor einer Therapieentscheidung abgewogen werden. Diese Gesichtspunkte fließen in die Entscheidung mit ein:
- Organisch-physiologisch
- Patientenbezogene Verhaltensaspekte
- Juristisch-forensisch
- Ökonomisch
Beispiele: Entscheidungen am Einzelfall statt Pauschalisierung
- Kosten-Nutzen-Probleme beim Einsatz von Chemotherapeutika in der Krebsbehandlung. Sind die Überlebenschancen tatsächlich signifikant höher abgewägt mit den starken Beeinträchtigungen der Lebensqualität des Patienten durch die Nebenwirkungen?
- Priorisierung: Entwickelt eine ältere Dame mit Diabetes Mellitus II eine akute Herzproblematik, können die Therapien (Medikamente, diätische Einstellung, etc.) kollidieren. Möglicherweise muss die Therapie der Herzsymptomatik priorisiert werden, auch wenn dies Folgen für die Entwicklung des Diabetes haben kann.
Grundlagen der Entscheidung

Bild: „Patient-Arzt-Gespräch“ von wr52351. Lizenz: CC BY-ND 2.0
Der Befund wird gebildet aus dem ärztlichen/therapeutischen Gespräch, Fragebögen, Testverfahren und Laborergebnissen. Im Verlauf wird der Eingangsbefund durch viele Informationen erweitert. Damit ärztliche Entscheidungen immer besser überprüfbar, einfacher zu formalisieren und zu vereinheitlichen sind, findet intensive Arbeit an Leitlinien statt. Ein Beispiel einer Leitlinie zur Hypertonie finden Sie hier.
Die wichtigsten Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-V
International Classification of Diseases (ICD) | Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) |
|
|
Kapitelaufteilung des ICD-10
Kapitel | |
I | Bestimmte infektiöse und parasitäre Krankheiten |
II | Neubildungen |
III | Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems |
IV | Endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten |
V | Psychische und Verhaltensstörungen |
VI | Krankheiten des Nervensystems |
VII | Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde |
VIII | Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes |
XI | Krankheiten des Kreislaufsystems |
X | Krankheiten des Atmungssystem |
XI | Krankheiten des Verdauungssystems |
XII | Krankheiten der Haut und der Unterhaut |
XIII | Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes |
XIV | Krankheiten des Urogenitalsystems |
XV | Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett |
XVI | Bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben |
XVII | Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien |
XVIII | Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind |
XIX | Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen |
XX | Äußere Ursachen von Morbidität und Mortalität |
XXI | Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen |
XXII | Schlüsselnummern für besondere Zwecke |
Das speziell für Kinder und Jugendliche entwickelte multiaxiale Klassifikationssystem der psychischen Störungen umfasst: Lernstörungen, Störungen der motorischen Fertigkeiten, tiefgreifende Entwicklungsstörungen, Störungen der Aufmerksamkeit, der Aktivität und des Sozialverhaltens, Essstörungen, Ausscheidungsstörungen und Tic-Störungen.
Achsenaufteilung des DSM-V:
- Achse I: Klinische Störungen und andere klinisch relevante Probleme
- Achse II: Persönlichkeitsstörungen und geistige Behinderung
- Achse III: Medizinische Krankheitsfaktoren
- Achse IV: Psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme
- Achse V: globale Beurteilung des Funktionsniveaus
Urteilsqualität und Qualitätskontrolle
Arten der Schlussfolgerung bei der Diagnosestellung
Schlussfolgerung | Vorgehen | Vorteil | Nachteil |
Additiv | möglichst viele Informationen werden über den Patienten zusammengetragen | gut bei fehlenden Informationen, höhere Präzision | arbeitsintensiv, kostenintensiv, Erhebung vieler irrelevanter Daten |
Linear | Informationen werden schrittweise unter Beachtung der Differenzialdiagnosen gesammelt | zeitökonomisch | Höheres Risiko, sich für falschen Weg zu entscheiden |
Qualitätskontrolle diagnostischer Entscheidungen
Der Arzt trifft seine Entscheidungen aufgrund „harter“ objektiver Daten und „weicher“ subjektiver Daten wie Befragungen, Anamnese und Verlaufsgesprächen. Eine weitere, zunehmend eingesetzte Form der systematischen Erfassung subjektiver Beobachtungen, sind Patiententagebücher. Die Qualitätskontrolle entsteht aus der Verlaufsdokumentation von Krankheit und Therapie. Den idealen Abschluss bildet die Katamnese (Nachuntersuchung), der Abschlussbericht der Krankenbehandlung.
Katamnesen liefern besonders wertvolle Informationen. Wochen, Monate oder sogar Jahre nach Abschluss der Behandlung können so Langzeitresultate erfasst und Therapievarianten verglichen werden. Diese Nachuntersuchungen sind jedoch sehr aufwendig, da die Patienten kontaktierbar und bereitwillig dazu sein müssen. Leider wird diese Art der Effizienzkontrolle daher eher selten durchgeführt.
Soll die Urteilsqualität allgemeiner medizinischer Entscheidungen gemessen werden, kommen Methoden der Prozess- und Evaluationsforschung zum Einsatz.
Die Prozessforschung versucht herauszufinden, wie sich bestimmte Krankheits- und Gesundheitsmaße im Lauf des Therapieprozesses verändern.
Die Evaluationsforschung dagegen zielt auf allgemeinere Ergebnisse ab: Systematische Messungen von therapeutischen Effekten und der Vergleich verschiedener Behandlungsmethoden soll die Wirksamkeit einzelner Therapiemethoden messen. Unterschiedliche therapeutische Methoden müssen miteinander verglichen werden, damit gesichert wird, dass sich die wirksamste Therapie durchsetzt.
Unsicherheit bei der diagnostischen Entscheidung?
Eine alltägliche Situation im Medizineralltag: Der Arzt ist unsicher, welche diagnostische Entscheidung er aufgrund der Befundlage treffen soll. Metaanalytische Studien können weiterhelfen: Hier werden Publikationen zu Therapien bei einer bestimmten Symptomatik zusammengetragen, sodass der klinisch tätige Arzt sich einen Überblick über den Forschungsstand aneignen kann. Auf der Basis des aktuellen Forschungsstands in diesem Gebiet kann so nach wissenschaftlichen Kriterien eine Entscheidung erleichtert werden.
Kriterien für die Qualität medizinischer Behandlung
Die Kontrolle der verschiedenen Qualitätsarten erfolgt anhand verschiedener Qualitätskriterien:
- Wissenschaftliche Kriterien
- Ökonomische Kriterien
- Patientenzufriedenheit
Entscheidungskonflikte
Entscheidungskonflikte sind trotz Leitlinien unvermeidbar. Individuell sind Ärzte von Intra- und Interrollenkonflikten (Lesen Sie mehr zu Rollen und Normen.) betroffen. Ein häufiger Konflikt ist die Behandlung des Individuums und die gleichzeitige Berücksichtigung der Allgemeinheit, vor allem im Hinblick auf die Kostengründe. Mit dieser Problematik werden Sie zunehmend als praktischer Arzt konfrontiert werden, da die Sparmaßnahmen des Gesundheitssystems immer rigider werden (z.B. OPs nur noch bis zu einer bestimmten Altersgrenze durchzuführen).
Hauptkategorien der ärztlichen Pflichten nach Brähler et al (2002)
- Lebensbewahrungspflicht
- Fürsorgepflicht (unter Wahrung der Autonomie des Patienten)
- Schweigepflicht
- Informations- und Aufklärungspflicht
- Sorgfaltspflicht
- Dokumentationspflicht
- Bereitschaftspflicht
- Weiterbildungspflicht
Dissens zwischen Ärzten: Fachlich und positional
Für Patienten oft irritierend ist der Einblick in ärztliche Konfliktstrukturen. Theoretisch kann jeder Arzt frei und selbstständig fachliche Entscheidungen treffen. Dies wird jedoch beeinflusst durch hierarchische Strukturen: Funktionelle Autorität (Überlegenheit im Sachverstand) und kollegiale, positionale Autorität (z.B. wenn die Meinung des Chefarztes immer die höchste Priorität hat). Die Lösung dieser Konflikte gehört zu den wichtigsten professionellen Leistungen des ärztlichen Berufes.
Werden alle hierarchischen Ebenen gleichsam am Entscheidungsprozess beteiligt, spricht man von einem partizipativen Führungsstil. Dieser setzt einen offenen Umgang mit Fehlern und eine gute interne Kommunikation voraus. Wird positionale Autorität betont, herrscht ein direktiver Führungsstil vor. Direktive Führungsstile verhindern offene Diskussion über fachliche Probleme und Fehleinschätzungen.
Beispiel: Im Pflegepraktikum merkt man schnell, ob auf der Station ein partizipativer oder direktiver Führungsstil herrscht: Wie werden Sie selbst im Team angenommen und geschätzt und wie verhalten sich die Teammitglieder in den Besprechungen untereinander?
Entscheidungsfehler
Der Arzt fällt ein diagnostisches Urteil, welches auf Wahrnehmungs- und Beurteilungsprozessen basiert. Diese treten nicht nur bei der Erstuntersuchung, sondern auch im Verlaufsprozess auf.
Grundlegende diagnostische Fehler: Fehler erster Art und Fehler zweiter Art
Fehler erster Art | Fehler zweiter Art |
Falsch positiv | Falsch negativ |
Stellen einer Krankheitsdiagnose bei Fehlen von Krankheit | Kranker Patient wird als gesund diagnostiziert |
Besonders in fachlichen Situationen muss das Auftreten der diagnostischen Urteilsverzerrung beachtet werden. Steht die Meinung eines anerkannten Spezialisten gegen den Einwand eines weniger bekannten Kollegen, wird die Meinung des Spezialisten weit höher gewichtet (Halo-Effekt).
Beliebte Prüfungsfragen zur ärztlichen Urteilsbildung und Entscheidung
Die Lösungen sind unterhalb der Quellen angegeben.
1. Das DSM-V stellt das wichtigste Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen dar. Es handelt sich um ein System mit 5 Achsen. Welche der folgenden Achsen gehört nicht zum DSM-V?
- Klinische Störungen und andere klinisch relevante Probleme
- globale Beurteilung des Funktionsniveaus
- sozialpsychologische Krankheitsfaktoren
- Medizinische Krankheitsfaktoren
- Persönlichkeitsstörungen und geistige Behinderung
2. Was gehört nicht zu den ärztlichen Hauptkategorien nach Brähler et al. ?
- Lebensbewahrungspflicht
- Fürsorgepflicht (unter Wahrung der Autonomie des Patienten)
- Schweigepflicht
- Informations- und Aufklärungspflicht
- Aufsichtspflicht
3. Steht die Meinung eines anerkannten Spezialisten gegen den Einwand eines weniger bekannten Kollegen und wird die Meinung des Spezialisten weit höher gewichtet, nennt man das…
- Bystander-Effekt
- Halo-Effekt
- Rosenthal-Effekt
- Assimilationseffekt
- Hawthorne-Effekt
Kurs-Tipp: Mit unserem Lecturio-Kurs in medizinischer Psychologie und Soziologie können Sie Ihr Wissen vertiefen und sich bestmöglich auf die Prüfungen in der Vorklinik und das Physikum (oder zum kompletten Physikums-Kurs) vorbereiten. Es lohnt sich, denn mit diesem Fach können Sie viele Punkte im Physikum sammeln… Probieren Sie unseren Kurs kostenlos aus!
Quellen
M. Schön (2007): GK1 Medizinische Psychologie und Soziologie. Springer Verlag.
K. Buser, T. Schneller, K. Wildgrube (2007): Kurzlehrbuch Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie. Elsevier Verlag.
S. Rothgangel (2010): Kurzlehrbuch Medizinische Psychologie und Soziologie. Thieme Verlag.
Brähler et al. (2002): Skriptum zur Medizinischen Psychologie und Soziologie. Psychosozial-Verlag.
Lösungen: 1C, 2E, 3B
Schreiben Sie einen Kommentar