Verhaltensstörung / Störung des Sozialverhaltens

Die Verhaltensstörung / Störung des Sozialverhaltens ist eine psychische Störung des Kinder- und Jugendalters, die durch ein wiederkehrendes Verhaltensmuster gekennzeichnet ist, bei dem sich die Betroffenen nicht an soziale Normen und Regeln halten oder die Grundrechte anderer missachten. Beispiele sind Gewalt, Zerstörung, Diebstahl, Lügen und schwerwiegende Regelverstöße, die seit ≥ 1 Jahr bestehen. Ein wichtiger Risikofaktor ist die Ablehnung und Vernachlässigung durch die Eltern. Eine Verhaltensstörung ist schwer zu behandeln und erfordert einen multimodalen Ansatz, der Familientherapie, Verhaltensmodifikation und Pharmakotherapie umfasst. Hinweis: Die Verhaltensstörung (Englisch: Conduct Disorder) ist eine Neuerung der ICD-11 und entspricht dem Krankheitsbild der Störung des Sozialverhaltens aus der ICD-10. Das grundlegende Verständnis für die Erkrankung ändert sich nicht, es gibt allerdings Unterschiede in der Einteilung.

Aktualisiert: 20.06.2023

Redaktionelle Verantwortung: Stanley Oiseth, Lindsay Jones, Evelin Maza

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Überblick

Definition

Die Verhaltensstörung ist eine Störung, die mit einem hohen Maß an problematischen Verhaltensweisen und antisozialen Aktivitäten einhergeht. Kinder und Jugendliche mit dieser Erkrankung zeigen Aggressionen gegenüber anderen und zerstören mutwillig Eigentum, stehlen oder lügen.

Epidemiologie

Geschätzte Prävalenz in Deutschland:

  • 2-9 %
  • Am höchsten in der Altersgruppe der Jugendlichen
  • Jungen > Mädchen
  • 40 % der Kinder, bei denen eine Verhaltensstörung diagnostiziert wird, entwickeln im Erwachsenenalter eine antisoziale Persönlichkeitsstörung.

Ätiologie

  • Keine endgültige Theorie aufgrund zahlreicher Risikofaktoren und Komorbiditäten
  • Risikofaktoren:
    • Persönlich:
      • Unkontrolliertes kindliches Temperament
      • Unterdurchschnittliche Intelligenz, insbesondere verbaler IQ
    • Umwelt:
      • Elterliche Vernachlässigung
      • Körperlicher/ sexueller Missbrauch Sexueller Missbrauch Sexueller Missbrauch
      • Kriminalität der Eltern
      • Ablehnung durch Gleichaltrige
      • Exposition gegenüber Gewalt und/oder Drogenmissbrauch
    • Genetisch und physiologisch bedingt: höheres Risiko bei Kindern mit einem biologischen Elternteil/Geschwister mit anderen psychiatrischen Komorbiditäten

Klinik und Diagnostik

Diagnosekriterien nach ICD-10

  • Entspricht in der ICD-10 der Störung des Sozialverhaltens
  • Weitgehend gleiche Diagnosekriterien wie bei der ICD-11
  • Mehrere Untergruppen, abhängig vom Ausmaß der Störung, ob soziale Bindungen vorhanden sind oder fehlen und ob oppositionelles Verhalten beobachtet werden kann

Diagnosekriterien nach ICD-11

  • Ein chronisches Verhaltensmuster, das sich nicht an altersgemäße gesellschaftliche Normen hält oder gegen die Rechte anderer verstößt
  • Mehrere Untergruppen, abhängig vom Alter bei Beginn der Erkrankung
Tabelle: Diagnose einer Verhaltensstörung
Kategorien Kriterien
Aggression gegenüber Menschen und Tieren
  • Schikaniert, bedroht oder schüchtert andere ein
  • Initiiert körperliche Auseinandersetzungen
  • Verwendet gefährliche Waffen, um Schaden anzurichten
  • Körperlich grausam zu Menschen
  • Körperlich grausam zu Tieren
  • Stiehlt und konfrontiert dabei offen das Opfer
  • Zwingt andere zu sexuellen Handlungen
Zerstörung von Eigentum
  • Legt absichtlich Feuer, um Schaden anzurichten
  • Zerstört das Eigentum anderer
Arglist oder Diebstahl
  • Bricht in das Eigentum anderer ein
  • Lügt oder täuscht andere oft zum eigenen Vorteil
  • Stiehlt, ohne das Opfer zu konfrontieren
Schwerwiegender Verstoß gegen die Vorschriften
  • Bleibt trotz elterlicher Verbote nachts draußen
  • Läuft mehrmals über Nacht oder ohne für längere Zeit zurückzukehren von zu Hause weg
  • Verweigert bzw. schwänzt die Schule

Weitere Kriterien

  • Das Verhalten verursacht eine klinisch signifikante Beeinträchtigung der sozialen, schulischen oder beruflichen Pflicht.
  • Wenn die Verhaltensstörung nach dem 18. Lebensjahr fortbesteht, wird sie als antisoziale Persönlichkeitsstörung neu eingestuft.
  • Die diagnostische Bewertung sollte auch Informationen von Familienangehörigen und anderen Bezugspersonen sowie aktuelle akademische Berichte (Paper) umfassen, falls vorhanden.
  • Grundlegende Laboruntersuchungen, wie z. B. ein Drogenscreening im Urin, können nützlich sein, um Drogenmissbrauch oder andere medizinische Störungen auszuschließen.

Therapie

Allgemeiner Ansatz

Multimodaler Ansatz:

  • Familientherapie: Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit, Verbesserung der familiären Interaktionen
  • Verhaltenstherapie: Wutbewältigung, Verbesserung der sozialen Kompetenzen
  • Pharmakotherapie: zur Behandlung spezifischer Symptome
Tabelle: Pharmakotherapie für verschiedene Zielsymptome bei Verhaltensstörung
Zielsymptome Pharmazeutische Optionen
Aggressivität, Explosivität Stimmungsstabilisatoren (z. B. Lithium)
Schwere Aggression
Impulsivität, Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit

Prognose

  • Verhaltensstörung in der Kindheit: höheres Risiko, im Erwachsenenalter eine antisoziale Störung und einen missbräuchlichen Drogenkonsum zu entwickeln
  • Verhaltensstörung bei Jugendlichen: bessere Prognose, spricht möglicherweise besser auf Interventionen an

Differentialdiagnosen

  • Oppositionelle Verhaltensstörung Oppositionelle Verhaltensstörung Oppositionelle Verhaltensstörung/Oppositionelles Trotzverhalten: Eine psychiatrische Störung in der Pädiatrie, die sich durch ein kontinuierliches Muster von wütender/gereizter Stimmung, streitsüchtigem/trotzigem Verhalten oder Rachsucht gegenüber Erwachsenen oder anderen Autoritätspersonen auszeichnet. Die Symptome müssen seit ≥ 6 Monaten bestehen. Betroffene Patient*innen zeigen kein aggressives oder gewalttätiges Verhalten und sie verletzen nicht die Rechte anderer, wie es bei der Verhaltensstörung der Fall ist.
  • ADHS ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS): Eine neurologische Entwicklungsstörung, die durch ein Muster von Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität/Impulsivität gekennzeichnet ist, das länger als 6 Monate auftritt. Der Beginn liegt in der Regel vor dem 12. Lebensjahr. ADHS ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) tritt häufig gleichzeitig bei Verhaltensstörungen auf; die Hyperaktivität und das impulsive Verhalten von ADHS-Erkrankten verletzen jedoch im Allgemeinen keine gesellschaftlichen Normen oder die Rechte anderer.
  • Disruptive Affektregulationsstörung Disruptive Affektregulationsstörung Disruptives Verhalten und Störung des Sozialverhaltens: Psychische Störung im Kindesalter, die mit chronisch negativer Stimmung, Reizbarkeit und schweren wiederkehrenden Wutausbrüchen einhergeht. Obwohl die emotionalen Ausbrüche in keinem Verhältnis zum Entwicklungs-/Reifegrad des Kindes stehen, sind diese Episoden nicht schwerwiegend genug, um als Verhaltensstörung eingestuft zu werden und sie beeinträchtigen auch nicht die Rechte anderer, wie es bei der Verhaltensstörung der Fall ist.
  • Intermittierende explosible Störung Intermittierende Explosible Störung Intermittierende explosible Störung: wiederkehrende schwere Wutausbrüche mit normaler Stimmung zwischen den Ausbrüchen. Die Symptome dauern > 3 Monate an. Der Beginn kann in der späten Kindheit oder im Jugendalter liegen, doch wird die intermittierende explosible Störung Intermittierende Explosible Störung Intermittierende explosible Störung meist bei jungen Männern diagnostiziert (Alter >18). Die Wutausbrüche sind nicht so schwerwiegend oder gewalttätig/schädigend für andere, wie es bei Verhaltensstörung der Fall ist. Diese Ausbrüche werden auch von Reue begleitet, was bei letzterem nicht üblich ist.
Tabelle: Merkmale einer Verhaltensstörung im Vergleich zu wichtigen Differentialdiagnosen
Merkmale Oppositionelle Verhaltensstörung Oppositionelle Verhaltensstörung Oppositionelle Verhaltensstörung/Oppositionelles Trotzverhalten (ODD) Disruptive Affektregulationsstörung Disruptive Affektregulationsstörung Disruptives Verhalten und Störung des Sozialverhaltens (DMDD) Verhaltensstörung
Beginn Vorschulalter Alter 6-10 Jahre
  • Unterteilung je nach Beginn in der Kindheit (unter 10 Jahre) oder Jugend (über 10 Jahre)
Stimmung Wütend/gereizt Wütend/gereizt Keine Stimmungskomponente
Beeinträchtigung der zwischenmenschlichen Beziehungen Zeigt anhaltendes und häufig streitsüchtiges/trotziges Verhalten, das nicht dem Entwicklungsstand entspricht Zeigt Gefühlsausbrüche, die dem Entwicklungsstand nicht entsprechen
  • Löst aggressives Verhalten aus
  • Reagiert aggressiv
Psychologische Merkmale
  • Verhalten als Folge einer Bedrohung der eigenen Autonomie
  • Hält das eigene Verhalten für gerechtfertigt
Extreme und unverhältnismäßig wütende Reaktion auf Stimuli Mangel an Empathie, Reue oder Schuldgefühlen
Verhaltensmuster
  • Widersetzt sich Regeln und Autoritätspersonen
  • Nicht körperlich aggressiv
  • Verstößt gegen die Regeln der Gesellschaft (Diebstahl, Vandalismus)
  • Aggressiv gegenüber Menschen und Tieren
Ausschlussdiagnose Nicht diagnostiziert, wenn die Kriterien für die disruptive Affektregulationsstörung Disruptive Affektregulationsstörung Disruptives Verhalten und Störung des Sozialverhaltens erfüllt sind Kann zusammen mit ADHS ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), Verhaltensstörungen, depressiven Störungen und Drogenabusus auftreten
  • Kann zusammen mit der Oppositionellen Verhaltensstörung auftreten
  • Eine antisoziale Persönlichkeitsstörung muss erwogen werden, wenn Alter >18 Jahre

Quellen

  1. Mohan L, Yilanli M, Ray S. (2020). Conduct disorder. In: StatPearls https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK470238/ (Zugriff am 7. Juni 2021).
  2. Sadock BJ, Sadock VA, Ruiz P. (2014). Child psychiatry. Chapter 31 of Kaplan and Sadock’s Synopsis of Psychiatry: Behavioral Sciences/Clinical Psychiatry, 11th ed. Philadelphia: Lippincott Williams and Wilkins, pp. 1247–1253.
  3. Barzman, D. (2017). Conduct disorder and Its Clinical Management. DeckerMed Medicine.
  4. World Health Organisation (2019). Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification (ICD-10-GM), F91 Störungen des Sozialverhaltens
    https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2022/block-f90-f98.htm (Zugriff am 02. März 2022).
  5. World Health Organisation (2020). International Classification of Diseases 11th Revision, ICD-11, 6C91 Conduct-dissocial disorder.
    https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http://id.who.int/icd/entity/719572464 (Zugriff am 02. März 2022).

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