Das echte Unterlassungsdelikt der unterlassenen Hilfeleistung gemäß § 323c StGB genießt in der Praxis sowie in der Klausur überragende Bedeutung. Im Folgenden werden daher das Schema sowie die  einzelnen, examensrelevanten Tatbestandsmerkmale näher beleuchtet.

Bild: “HILFE 223/365” von Dennis Skley. Lizenz: CC BY-ND 2.0


I. Allgemeines zu § 323c StGB

§ 323c Abs. 1 StGB:

Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.

Geschützte Rechtsgüter sind das Leben, die Gesundheit, die Freiheit und das Eigentum.

Beachte: Ein Versuch der unterlassenen Hilfeleistung ist nicht möglich, da es sich bei der unterlassenen Hilfeleistung um ein Vergehen handelt und die Versuchsstrafbarkeit nicht ausdrücklich normiert ist (vgl. §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 2 StGB).

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Unterlassene Hilfeleistung, § 323c StGB

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Bei § 323c StGB handelt es sich um ein echtes Unterlassungsdelikt! Der Täter muss keine Garantenstellung nach § 13 StGB innehaben.

Klausurtipp: Prüfe § 323c StGB immer dann, wenn ein unechtes Unterlassungsdelikt mangels Garantenstellung verneint werden muss!

II. Schema, § 223c StGB

Prüfungsschema: Unterlassene Hilfeleistung, § 323c StGB

  • I. Tatbestandsmäßigkeit
  • 1. Objektiver Tatbestand
  • a) Unglücksfall, gemeine Gefahr oder Not
  • b) Unterlassen einer Hilfeleistung
    • aa) Erforderlichkeit
    • bb) Möglichkeit
    • cc) Zumutbarkeit
  • 2. Subjektiver Tatbestand: dolus eventualis ausreichend
  • II. Rechtswidrigkeit/Schuld

III. Tatbestandsvoraussetzungen des § 323c StGB

Im Folgenden werden die einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 323c StGB erläutert.

1. Unglücksfall, gemeine Gefahr und gemeine Not

Innerhalb des objektiven Tatbestands ist zuerst zu prüfen, ob ein Unglücksfall, eine gemeine Gefahr oder Not vorliegt.

Definition: Bei einem Unglücksfall handelt es sich um ein plötzlich eintretendes Ereignis, welches eine erhebliche Gefahr für Menschen oder Sachen hervorruft bzw. hervorzurufen droht.

Die Frage, ob ein Unglücksfall vorliegt, ist nach herrschender Meinung aus der ex post-Perspektive eines objektiven Betrachters zu beurteilen.

Definition: Als eine gemeine Gefahr wird eine konkrete Gefahr für Leib und Leben einer größeren Anzahl an Menschen bzw. für erhebliche Sachwerte definiert.
Definition: Demgegenüber handelt es sich bei der gemeinen Not um eine Notlage von einer gewissen Erheblichkeit, die die Allgemeinheit betrifft.

2. Unterlassen einer erforderlichen und möglichen Hilfeleistung

Die Hilfeleistung, die der Täter unterlässt, muss außerdem erforderlich, möglich und zumutbar sein.

Die Erforderlichkeit ist gegeben, wenn die Hilfeleistung aus Sicht eines verständigen Beobachters sowohl geeignet als auch notwendig ist, um drohende weitere Schäden abzuwenden. Die Feststellung der Erforderlichkeit erfolgt aus der ex ante-Perspektive eines verständigen Beobachters.

Eine Erforderlichkeit liegt beispielsweise nicht vor, wenn bereits eine andere Person hinreichend Hilfe leistet, der von dem Unglücksfall oder der Notlage Betroffene sich selbst helfen kann oder er oder sie bereits tot ist.

Hinzukommend muss die Hilfeleistung dem Täter auch möglich sein. Dies betrifft vor allem die physische Möglichkeit bzw. das Vorhandensein der erforderlichen Kenntnisse und Hilfsmittel. Vor der Verneinung muss aber sorgfältig geprüft werden, ob nicht doch andere Hilfsmöglichkeiten bestehen.


Unterlassene Hilfeleistung, § 323c StGB

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4. Zumutbare Hilfeleistung: Gefahren und Solidaritätspflicht

Nach herrschender Meinung handelt es sich auch bei der Zumutbarkeit um ein Tatbestandsmerkmal. Dies lässt sich damit begründen, dass sie auf diese Weise als Korrektiv im Hinblick auf die eventuell zu starke Belastung des Einzelnen mit Hilfspflichten dient. Eine Notwendigkeit hierfür ergibt sich aus dem Umstand, dass gemäß § 323 c StGB grundsätzlich jeder zur Hilfe verpflichtet ist.

Der Wortlaut des Gesetzes nennt zwei Anknüpfungspunkte für die Frage der Zumutbarkeit, nämlich das Vorliegen einer erheblichen eigenen Gefahr und die Verletzung anderer wichtiger Pflichten. Die Gefahr meint eine Bedrohung eines Rechtsguts des Täters bzw. eines nahen Angehörigen. Dabei können beispielsweise das Leben, die Gesundheit oder das Vermögen betroffen sein.


Unterlassene Hilfeleistung, § 323c StGB

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Je stärker die für den Betroffenen bestehende Gefahr ist, desto eher ist dem Täter eine Hilfeleistung zuzumuten. Auch eine Beteiligung des Täters an dem Unglücksvorfall steigert seine Handlungspflicht.

Fraglich ist, ob die Zumutbarkeit aufgrund der Gefahr einer eigenen Strafverfolgung des Täters entfallen kann. Steht eine Strafverfolgung in Rede, die sich aufgrund des Unglücksfalls ergeben könnte, wird dies einhellig verneint.

Beispiel 1: T ist betrunken Auto gefahren und dabei mit dem Wagen des O kollidiert. Er lässt sich von einem Freund von der Unfallstelle abholen, ohne dem schwerverletzten O zu helfen. Hier war die Hilfeleistung dem T eindeutig zumutbar.

Handelt es sich um die Gefahr einer Verfolgung von Taten, die nichts mit dem Unglücksfall zu tun haben, ist dies umstritten.

  • Nach einer Ansicht ist die Hilfeleistung in diesem Fall unzumutbar.
  • Nach anderer Ansicht berührt dieser Umstand die Zumutbarkeit grundsätzlich nicht.

Für die zweite Ansicht kann man argumentieren, dass es beim Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung um eine Solidaritätspflicht gegenüber anderen geht und nicht um etwaige Strafverfolgungsansprüche. Eine Hilfeleistung, die nicht mit einem erheblichen Strafverfolgungsrisiko verbunden ist, ist deshalb zumutbar. Eine solche, die den Täter faktisch überführt, kann die Zumutbarkeit hingegen entfallen lassen.

Beispiel 2: T hat drei Monate zuvor einen Raubüberfall begangen und ist seitdem untergetaucht. Während er über die Landstraße fährt, entdeckt er im Straßengraben den durch einen Autounfall schwerverletzten O. Hier wäre es T zumindest zumutbar, von einer Notrufsäule aus einen Rettungswagen zu alarmieren, da diese Hilfeleistung wohl nicht mit einem erheblichen Strafverfolgungsrisiko für ihn verbunden wäre.

Bei der Frage, ob andere wichtige Pflichten die Zumutbarkeit entfallen lassen, muss in die Abwägung einbezogen werden, dass angesichts der mitunter schweren drohenden Folgen für den durch die Notsituation Betroffenen nur gewichtige Eigeninteressen des Täters der Hilfeleistung entgegenstehen können. Subjektiv erfordert die unterlassene Hilfeleistung mindestens dolus eventualis.

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