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Kind

Definition Kind

Kind Das Kind von heute lebt in einer Welt, die sich von der Kindheitswelt seiner Eltern und Großeltern radikal unterscheidet. Die Lebenserwartung des Neugeborenen beträgt heute über 75 Jahre gegenüber 40 Jahren am Ende des 19. Jahrhunderts. Dieser Fortschritt ist in erster Linie auf die Verminderung der Säuglings- und Kindersterblichkeit zurückzuführen. Krankheitshäufigkeit und Sterblichkeit der Kinder in unserer Gesellschaft sind in einem fast unvorstellbaren Maße gesunken. Die klassischen Kinderkrankheiten wie Diphtherie und Scharlach sind auf dem Rückzug und bilden keine Bedrohung des kindlichen Lebens mehr. Andere Kinderkrankheiten - z. B. Masern, Mumps und spinale Kinderlähmung - können durch wirksame Impfungen unter Kontrolle gehalten werden. Zudem gibt es so gut wie keine Ernährungsstörungen durch Fehlernährung mehr. Die Fortschritte der allgemeinen Hygiene und die verbesserten Kindernährmittel haben das Ihre dazu beigetragen, die Kindersterblichkeit zu senken. Doch auch auf diesem Sektor schlägt das Pendel wieder zurück: Die Stillfreudigkeit der heutigen Mütter nimmt deutlich zu, ebenso ihre Bereitschaft, ihre Kinder mit selbst zubereiteten Mahlzeiten zu ernähren. Die vorbeugende Betreuung, die zunächst vor allem das erste Lebensjahr betraf, wurde in Deutschland durch Einführung von 8 Vorsorgeuntersuchungen auf das Kleinkindalter ausgedehnt. Auch die sozialen Leistungen des Staates für die Kinder dürfen nicht unerwähnt bleiben. Die meisten Kindergärten, Kinderheime, Schulen, Spiel- und Sportplätze, Schwimmbäder und nicht zuletzt die Kinderkrankenhäuser können sich durchaus sehen lassen.

Diesen positiven Zeiterscheinungen stehen aber auch etliche negative Auswirkungen gegenüber. Wenn sich auch theoretisch die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass das Kind kein »kleiner Erwachsener« ist, sondern neben eigenen Krankheiten in seiner Entwicklung auch eigene Reaktionen zeigt, sieht die Praxis leider oft anders aus. An die Stelle der Infektionskrankheiten und Ernährungsstörungen sind die Zivilisationskrankheiten getreten, die ihre Ursache in den modernen Lebensumständen haben. In den Industrieländern stehen Gefährdungen im Vordergrund, die sich innerhalb des Elternhauses durch mangelhafte Zuwendung und falsche Erziehung, in den übrigen Lebensbereichen durch eine erschreckende Zunahme von Verhaltensstörungen, psychosomatischen Krankheiten, Unfällen und Vergiftungen ergeben. Die Umstrukturierung der Familie durch die Berufstätigkeit der Mutter ist zu Lasten der Kinder gegangen. All das beginnt man langsam einzusehen und versucht, durch die wahlweise Heranziehung des Familienvaters als "Hausmann" gegenzusteuern. Es ist bestimmt kein Zufall, dass unter diesen Umständen viel zu viele Kinder Unfällen und Vergiftungen, die durch Sorgfalt und Vorsicht vermeidbar gewesen wären, zum Opfer fallen. Erschütternd hoch ist auch die Selbstmordquote bei Kindern und der Anteil junger Menschen an kriminellen Taten. Die Versäumnisse liegen vor allem bei Eltern, Lehrern und Erziehern, aber auch bei Behörden und Industrie. Als Zivilisationsfolgen müssen auch die Zunahme der Allergien und Ekzeme sowie der Anteil der übergewichtigen Kinder gewertet werden. Außerdem werden die Kinderärzte immer mehr mit verhaltensgestörten Kindern konfrontiert (Entwicklungsstörungen). Nach einer Statistik weisen zum Teil bereits 7- bis 10-jährige Jungen folgende Beeinträchtigungen auf: Kopfschmerzen 23 Prozent, Schlafstörungen 26 Prozent, Essstörungen 15 Prozent, Bettnässen 8 Prozent, Nägelkauen und Haarausreißen 38 Prozent, Tics (nervöse Muskelzuckungen) 11 Prozent, Konzentrationsstörungen 39 Prozent, Aggressivität 29 Prozent.

Das 20. Jahrhundert sollte nach der Prophezeiung der schwedischen Schriftstellerin Ellen Key (1849-1926) ein "Jahrhundert des Kindes" werden. Leider muss man heute sagen, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde.

Abbildungen

  • Kosovar_Albanian_children.jpg

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