Die Selbsthilfe gem. § 229 BGB kann sowohl im Strafrecht als auch im Zivilrecht in Klausuren oder im Examen eine Rolle spielen. Dieser Beitrag befasst sich mit dem wichtigen Schema des § 229 BGB sowie allen erforderlichen Voraussetzungen des § 229 BGB.

Bild: “Diebstahl” von Dierk Schaefer. Lizenz: CC BY 2.0


I. Allgemeines zu § 229 BGB

§ 229 BGB lautet:

Wer zum Zwecke der Selbsthilfe eine Sache wegnimmt, zerstört oder beschädigt oder wer zum Zwecke der Selbsthilfe einen Verpflichteten, welcher der Flucht verdächtig ist, festnimmt oder den Widerstand des Verpflichteten gegen eine Handlung, die dieser zu dulden verpflichtet ist, beseitigt, handelt nicht widerrechtlich, wenn obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist und ohne sofortiges Eingreifen die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung des Anspruchs vereitelt oder wesentlich erschwert werde.

Definition: Unter Selbsthilfe versteht man die gewaltsame Durchsetzung oder Sicherung eigener Ansprüche.

Die Selbsthilfe gem. § 229 BGB ist notwehrähnlich aufgebaut. Die bekanntesten Fallgruppen sind die folgenden:

  • Ein bestohlener Eigentümer begegnet dem Dieb nach der Tat mit der gestohlenen Sache.
  • Festhalten von fluchtverdächtigen unbekannten Personen, die Zahlungsansprüche nicht erfüllen.

Die Nichterfüllung zivilrechtlicher Ansprüche wird allgemein als Angriff durch Unterlassen angesehen. Die §§ 229, 230 BGB genießen dementsprechend in einem solchen Fall Vorrang vor § 32 StGB. Dies wird damit begründet, dass § 32 StGB nicht anwendbar ist, da ansonsten die Schranken des Selbsthilferechts unterlaufen würden.

§ 229 BGB stellt keine eigenmächtige Befriedung des zivilrechtlichen Anspruchs dar, sondern dient der vorläufigen Sicherung des Anspruchs. Der Unterschied zu § 127 StPO liegt hierbei darin, dass für § 229 BGB kein Zusammenhang mit der Begehung einer Straftat erforderlich ist.

Prüfungsschema: § 229 BGB

  • I. Objektive Rechtfertigungselemente
  • 1.Selbsthilfelage
    • a) Fälliger und einredefreier zivilrechtlicher Anspruch
    • b) Keine rechtzeitige obrigkeitliche Hilfe
    • c) Gefährdung der Anspruchsverwirklichung
  • 2. Selbsthilfehandlung
    • a) Insbesondere Wegnahme einer Sache oder Festnahme des fluchtverdächtigen Verpflichteten
    • b) Erforderlichkeit
  • II. Subjektives Rechtfertigungselement Selbsthilfeabsicht (vgl. „zum Zwecke‟); streitig
  • III. Rechtsfolge

II. Objektive Rechtfertigungselemente

1.Selbsthilfelage

a) Fälliger und einredefreier zivilrechtlicher Anspruch

Es muss ein durchsetzbarer, einredefreier Anspruch vorliegen.
Typisch sind die Ansprüche auf Herausgabe einer weggenommenen Sache oder das Vorliegen einer Geldforderung. Zudem der Auskunftsanspruch gegen einen unbekannten und zahlungsunwilligen Schuldner, gerichtet auf Bekanntgabe der Personalien.
Hierbei muss beachtet werden, dass der Anspruch aus § 229 BGB keine weitergehenden Rechte als die Auskunft einräumt.

b) Keine rechtzeitige obrigkeitliche Hilfe

Grundsätzlich ist obrigkeitliche, d.h. staatliche Hilfe vorrangig. Dementsprechend ist § 229 BGB nicht anwendbar, wenn beispielsweise einstweiliger Rechtsschutz möglich ist.

c) Gefährdung der Anspruchsverwirklichung

Weiter muss die Anspruchsverwirklichung gefährdet sein. Dies kann z.B. bei Herausgabe der gestohlenen Sache durch den Dieb oder der Gefahr, dass der Schuldner sich ins Ausland absetzt, gegeben sein.
Nicht ausreichend sind hingegen Nachteile und Risiken, die das Gesetz einkalkuliert und die der Gläubiger entsprechend tragen muss.
Ebenfalls nicht ausreichend sind drohende Beweisschwierigkeiten.

2. Selbsthilfehandlung

a) Insbesondere Wegnahme einer Sache oder Festnahme des fluchtverdächtigen Verpflichteten

Die Selbsthilfehandlung darf immer nur vorläufigen Charakter haben, vgl. § 230 Abs. 2, Abs. 3 BGB. § 230 Abs. 2, Abs. 3 BGB gebietet es, die in § 230 BGB genannten Mittel zu erwirken.

Die Selbsthilfe darf nicht weiter gehen, als dies zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist, § 230 Abs. 1 BGB. Im Falle der Wegnahme von Sachen oder der Festnahme des Verpflichteten hat der Handelnde außerdem den Arrest i.S.d. §§ 916, 918 ZPO zu beantragen, § 230 Abs. 2, 3 BGB.

Strittig ist es, ob auf den dinglichen Arrest verzichtet werden kann, wenn der Berechtigte dem Dieb die Sache wieder abnimmt?

  • Hierfür spricht, dass es lebensfremd ist, anzunehmen, der Eigentümer, der froh über die Rückgewinnung seiner Sache ist, gehe mit dieser unverzüglich zum Amtsgericht, § 230 Abs. 4 BGB.
  • Dagegen spricht allerdings, dass der Anspruch auch in solchen Fällen zweifelhaft sein kann. Eine Schaffung vollendeter Tatsachen widerspricht deshalb dem Zweck der Selbsthilfe.

Anzumerken ist noch, dass § 230 Abs. 3 BGB nicht für das Festhalten des unbekannten Schuldners zur Personalienfeststellung gilt. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Vorschrift.

b) Erforderlichkeit

Die Selbsthilfehandlung muss das mildestes zur Verfügung stehende Mittel sein.

Der BGH sieht hierbei auch die Wegnahme einer Sache als bloßes Druckmittel, z.B. um jemanden zu zwingen, seine Personalien preiszugeben, als zulässig an. Dies stelle keinen Widerspruch zu § 230 Abs. 2 BGB dar, da die Wegnahme der Sache das mildere Mittel im Vergleich zum Festhalten der Person sei.

Zur Ermittlung der Grenzen des Erlaubten kann entsprechend auf die Grenzen des bekannten Festnahmerechts gem. § 127 StPO zurückgegriffen werden.

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III. Subjektives Rechtfertigungselement

Zudem muss der Handelnde Selbsthilfeabsicht aufweisen.

Selbsthilfeabsicht ist als ein zielgerichtetes Wollen zu definieren. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift („zum Zwecke“) und den entsprechenden Ansichten zu den vergleichbaren Rechten aus §§ 32, 34 StGB.

IV. Rechtsfolge

Die Selbsthilfe ist unter den erörterten Voraussetzungen der §§ 229, 230 BGB rechtmäßig. Dementsprechend ist Notwehr gegen die rechtmäßige Selbsthilfehandlung unzulässig. Liegen die Voraussetzungen nicht vor, haftet der Handelnde auch bei unverschuldetem Irrtum auf Schadensersatz



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