(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Kurzschema
I. Schutzbereich
1. Persönlicher Schutzbereich: jeder Mensch
2. Sachlicher Schutzbereich: Menschenwürde
II. Eingriff in den Schutzbereich: Degradierung zum bloßen Objekt („Objektformel“)
III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung: nicht möglich!
Inhaltsverzeichnis
- Fall, VG Neustadt, NVwZ 1993, 98
- I. Schutzbereich
- V. Eingriffe
- IV. Schranken
- VII. Objektive Dimensionen der Garantie der Menschenwürde
- Falllösung
- Dieses kostenlose eBook inkl. Fallbeispielen zeigt Ihnen einfach & verständlich Grundwissen zum BGB AT:✔ Einstieg über Rechtssubjekte✔ Methoden der Fallbearbeitung im Zivilrecht✔ Wichtige Normen und Problemfelder des BGB AT

Bild: „Save in Daddy’s Arms“ von Jlhopgood. Lizenz: CC BY-ND 2.0
Fall, VG Neustadt, NVwZ 1993, 98
Emil (E) ist Betreiber einer Diskothek, die nur mühsam läuft. Damit E neue Kunden gewinnen kann, beschließt er mit dem kleinwüchsigen Klein (K), dass sich dieser an jedem Samstag des Monats für Wettkämpfe im „Zwergenweitwurf“ zur Verfügung stellt. Die berechtigte Geschäftsstelle verweigert die notwendige Zustimmung. Sie nimmt an, dass die Aufführung den guten Sitten nicht standhalten werde, § 33a II Nr. 2 GewO.
Stellt der „Zwergenweitwurf“ eine Verletzung des K in Art. 1 I GG dar?
I. Schutzbereich
1. Persönlicher Schutzbereich
Grundrechtsträgerschaft von natürlichen Personen
Grundsätzlich ist jede natürliche Person Träger des Grundrechts der Menschenwürde. Sie beschützt auch Kinder, Geisteskranke oder Straftäter. Es kommt nicht zwingend darauf an, ob sich der Träger seiner Würde bewusst ist oder sie selbst zu wahren weiß, BVerfGE 39, 1/41 f.
Grundrechtsträgerschaft des nasciturus
Sehr umstritten ist, ob auch das werdende Leben (sog. nasciturus) grundrechtsfähig ist. Das BVerfG hat dies in beiden Fällen offen gelassen, dennoch anerkannt, dass das werdende Leben Schutzgut des Art. 1 I GG ist. Demgemäß folgt aus Art. 1 I GG eine sachliche Schutzverpflichtung zu Gunsten des nasciturus.
Grundrechtsträgerschaft von Toten
Daneben hat das BVerfG auch einen fortbestehenden Anspruch auf Achtung der Menschenwürde bei Toten angenommen, BVerfGE 30, 173/196 f. Dieser Anspruch kann von den Angehörigen eines Toten geltend gemacht werden.
2. Sachlicher Schutzbereich
Der Schutzbereich der Garantie der Menschenwürde lässt sich nur schwer allgemein definieren. Meist wird er beschrieben, als der „allgemeine Eigenwert, der dem Menschen kraft seiner Persönlichkeit zukommt“, BVerfGE 30, 173/214.
Grds. werden zwei Ansätze zur Bestimmung des Begriffs der Menschenwürde angeführt.
a) „Mitgifttheorie“
- die Menschenwürde ist eine dem Menschen von Gott und/oder der Natur mitgegebener Wert
- orientiert sich an der Lehre Kants und der Naturrechtslehre
- für diese Theorie spricht, dass auch der parlamentarische Rat auf diese Lehren zur Schaffung des Art. 1 I GG zurückgegriffen hat
b) „Leistungstheorie“
- Kernelement der Menschenwürde ist die „Leistung“ eines jeden Menschen, die zur Identitätsbildung führt
- dieser Theorie zufolge erlangt der Mensch seine Würde durch eigenes selbstbestimmtes Verhalten
- die Theorie knüpft nicht an philosophische Grundsätze an, sondern an andere verfassungsrechtliche Grundprinzipien; bspw. Wahrnehmung der Freiheitsgrundrechte, welche ebenfalls identitätsbildend wirken
c) Stellungnahme zu den Theorien
Wie aufgezeigt, lässt sich die Menschenwürde in ihrem Gehalt schwer umreißen.
Die Mitgifttheorie stellt klar, dass dem Einzelnen die Menschenwürde von sich aus anhaftet, von ihm also nicht erworben und auch nicht verloren werden kann. Jedoch hilft sie grds. wenig dahingehend weiter, ihren sachlichen Gehalt zu bestimmen.
Die Leistungstheorie hingegen stellt klar, dass der Einzelne den Kern der Menschenwürde durch eigene Entscheidungen und sein Verhalten („Leistungen“) selbst bestimmt. Jedoch erscheint die Theorie problematisch im Hinblick auf handlungsunfähige und handlungsunwillige Personen. Diese sind zur Identitätsbildung außer Stande, können jedoch umfraglich nicht ihrer Menschenwürde entledigt sein (vgl. Mitgifttheorie).
Allgemein scheint es daher zweckmäßig nicht auf eine positive Bestimmung des Schutzbereiches abzustellen, sondern in negativer Hinsicht die Frage zu stellen: Ist im konkreten Einzelfall die Schwelle der Unzumutbarkeit gemessen an den jeweiligen gesellschaftlichen und ethischen Normwerten überschritten oder nicht?
Beachtlich ist auch, dass der Einzelne seine Menschenwürde nicht zur Disposition stellen kann. D.h. liegt entsprechend den Theorien ein Eingriff in die Menschenwürde vor, kann dieser nicht mit dem Willen des jeweiligen Grundrechtsträger gerechtfertigt werden.
V. Eingriffe
Ein Eingriff in Art. 1 I GG liegt der „Objektformel“ entsprechend vor, wenn der Mensch zum „bloßen Objekt staatlichen Handelns“ degradiert wird.
Wann eine solche Degradierung vorliegt ist in Einzelfällen sehr umstritten, sollte jedoch sehr restriktiv ausgelegt werden.
Beispiele für eine Degradierung zum Objekt
- Sklaverei, Menschenhandel
- Folter, Gehirnwäsche, Brechen des Willens durch Drogen oder Hypnose
- Entzug des Existenzminimums
Beispiele, in denen eine Degradierung zum Objekt abgelehnt wurde
- Zahlung einer Geldbuße im Ordnunsgwidrigkeitsverfahren (BVerfGE 9, 167,171)
- Leichenöffnung im Ermittlungsverfahren (BVerfG in NJW 1994, S. 783f.)
- Ladung zum Verkehrsunterricht (BVerfGE 22, 21, 28)
„Kind als Schaden“
Problematisch sind die „Kinder als Schaden“-Fälle, bei denen es um die Verantwortung eines Arztes nach einer fehlgeschlagenen Sterilisation oder der fehlerhaft genetischen Besprechung vor der Zeugung eines Kindes geht.
- Entscheidung Erster Senat, BVerfG, NJW 1998, 519, 523: Kein Verstoß gegen Art. 1 I GG. In der Verlagerung der Unterhaltspflicht auf Dritte, ist kein Unwerturteil über den anwesenden Unterhaltsberechtigten zu sehen.
- Entscheidung Zweiter Senat, BVerfG, NJW 1998, 519, 523: Gegensätzliche Ansicht, in der Geschichte des BVerfG einmaliger Vorgang. Lesen Sie selbst, BGH, NJW 2000, 1782.
IV. Schranken
Die Garantie der Menschenwürde unterliegt keinen Hindernissen „unantastbar“, sodass jeder Eingriff eine Verletzung darstellt.
Da Art. 1 I GG gem. Art. 79 III GG nicht einmal im Rahmen einer Verfassungsänderung zur Disposition stehen kann, können auch Eingriffe in Art. 1 I GG nie gerechtfertigt werden.
VII. Objektive Dimensionen der Garantie der Menschenwürde
- Schutzrechte und Leistungsansprüche: BVerfGE 40, 121/133.
- „Wrongful birth“: BverfG, NJW 1998, 519 ff.; BVerfG, NJW 1998, 523.
- Forschung mit embryonalen Stammzellen: BVerfGE 90, 1, 11.
- Abschuss eines Flugzeugs zur Abwehr eines terroristischen Anschlags: extrem strittig und examensrelevant; das BVerfG bejaht einen Eingriff in Art. 1 I GG (BVerfGE 115, 118 – 166).
Falllösung
Ein Verstoß gegen die guten Sitten könnte vorhanden sein, wenn die Veranstaltung des Zwergenweitwurf die Menschenwürde verletzen würde, deren Schutz der staatlichen Gewalt in Art. 1 I S. 2 GG ausdrücklich aufgetragen wird.
Hier wird der Zwerg wie ein Sportgerät behandelt und zum Gegenstand der Volksbelustigung entwertet, wonach keinesfalls die kunstgerechte Handhabung des K im Vordergrund steht. Es geht dabei nur um die berechenbare Dominanz, dies mit Hilfe an einer großwüchsigen Person darzustellen.
Dass der K die Teilnahme aus freien Stücken versprochen hat und diese Aufführung nicht demütigend empfindet, ist unbedeutend (vgl. Stellungnahme zu den Theorien, oben).
Der „Zwergenweitwurf“ stellt eine Verletzung des Art. 1 I GG dar.
Schreiben Sie einen Kommentar