Verstoßen die Mitgliedsstaaten gegen das Europarecht, müssen die entsprechenden Hoheitsträger unter bestimmten Voraussetzungen gegenüber den betroffenen Unionsbürgern für die entstandenen Schäden haften. Mit dem europarechtlichen Staatshaftungsanspruch wird die schwierige Materie des Staatshaftungsrechts mit dem Europarecht verzahnt. Mit folgendem Prüfungsschema behälst du in der Klausur den Überblick.
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Bild: “EU Grunge Flag” von Nicolas Raymond. Lizenz: CC BY 2.0


I. Haftungslücken im deutschen Staatshaftungsrecht

Verstößt ein deutscher Hoheitsträger gegen das Europarecht und erleidet ein Betroffener hieraus einen Schaden, bestehen grundsätzlich Staatshaftungsansprüche nach deutschem Recht. Es können aber Haftungslücken bestehen, wenn bestimmte Tatbestandsvoraussetzungen des Staatshaftungsrechts nicht erfüllt sind.

1. Haftungslücke bei Nichtumsetzung einer Richtlinie

Dies kann einerseits durch die Nichtumsetzung einer Richtlinie geschehen. Unterlässt der Gesetzgeber die (vollständige) Umsetzung, besteht kein Amtshaftungsanspruch nach deutschem Recht. Denn ein Verstoß gegen eine drittgerichtete Amtspflicht liegt nicht vor, da Gesetze nur im Interesse der Allgemeinheit erlassen werden. Aufgrund des Grundsatzes des Haftungsausschlusses für legislatives Unrecht besteht auch kein Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff.

2. Haftungslücke bei fehlender Angleichung deutscher Gesetze an Europarecht

Andererseits kann es durch die fehlende Angleichung deutscher Gesetze an Europarecht zu Haftungslücken kommen. Wenn Behörden anschließend aufgrund von europarechtswidrigen Rechtsgrundlagen Verwaltungsakte erlassen, scheitern Amtshaftungsansprüche am fehlenden Verschulden. Die Behörden sind nämlich zum Vollzug deutscher Gesetze verpflichtet und besitzen keine Normverwerfungskompetenz. Der enteignungsgleiche Anspruch ist wegen des Ausschlusses für legislatives Unrecht ebenfalls nicht anwendbar.

II. Das Francovich-Urteil des EuGH

Der europäische Staatshaftungsanspruch ist im europäischen Primärrecht nicht ausdrücklich verankert. Er wurde vom Europäischen Gerichtshof 1991 in seiner berühmten Francovich-Entscheidung entwickelt.

Hintergrund war die Nichtumsetzung einer Richtlinie durch Italien, die Arbeitnehmern einen Mindestschutz bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers garantieren sollte. Herrn Francovich wurden von einem Gericht in Italien unerfüllte Lohnansprüche gegen seinen Arbeitsgeber zugesprochen, die Zwangsvollstreckung war jedoch fruchtlos. Eine direkte Anwendbarkeit der Richtlinie durch nationale Gerichte schied wegen Unbestimmtheit der Richtlinie aus. Diese hatte den Staaten einen großzügigen Umsetzungsspielraum zugestanden. Um Herrn Francovich nicht vollends schutzlos zu stellen, entwickelte der EuGH das Rechtsinstitut des europäischen Staatshaftungsanspruchs und sprach ihm Schadensersatz gegen Italien zu.

III. Prüfungsschema: Europarechtlicher Staatshaftungsanspruch

Prüfungsschema:
1. Herleitung des Anspruchs
2. Anspruchsgrundlage
3. Handeln eines Hoheitsträgers
4. Qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht
5. Unmittelbare Kausalität zwischen Verstoß und Schaden
6. Kein Haftungsausschluss
7. Art und Umfang des Schadensersatzes
8. Verjährung
9. Anspruchsgegner

1. Herleitung des Anspruchs

Der europarechtliche Staatshaftungsanspruch findet sich nicht unmittelbar im Unionsrecht wieder. Dementsprechend griff der Europäische Gerichtshof (EuGH) bei der Entwicklung dieser Rechtsfigur in der Francovich-Entscheidung auf das Prinzip der Effektivität des Unionsrechts aus Art. 4 Abs. 3 EUV (Vertrags über die Europäische Union) und die allgemeinen Rechtsgrundsätze als ungeschriebenes Primärrecht zurück. Allgemeine Rechtsgrundsätze bestehen aus den rechtlichen Grundsätzen, die in den meisten Rechtsordnungen der Staaten gelten.

Der europarechtliche Staatshaftungsanspruch kann in der Klausur mit folgenden Argumenten hergeleitet werden:

  1. Das Prinzip der Effektivität des Unionsrechts (effet utile), Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union.
  2. Es ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts, dass der Einzelne Regress gegen einen Mitgliedsstaat bei diesem zurechenbaren Verstößen gegen das Europarecht nehmen kann.
  3. Artikel 340 AUEV (Vertrags über die Arbeitsweise der europäischen Union), in denen die europarechtliche Staatshaftung partiell geregelt ist und die nationalen Rechtsordnungen kennen ebenfalls Staatshaftungsansprüche. Dies lässt auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz schließen.

2. Anspruchsgrundlage

Der EuGH hat bei der Entwicklung des europarechtlichen Staatshaftungsanspruchs bestimmte abschließende Vorgaben hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen aufgestellt. Umstritten ist das Verhältnis zum nationalen Staatshaftungsanspruch und welche Anspruchsgrundlage für die anspruchsbegründenden Voraussetzungen gilt:

  • Nach einer Ansicht sind wie beim deutschen Staatshaftungsrecht der § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG anzuwenden. Diese sollen allerdings europarechtskonform im Lichte der vom EuGH aufgestellten Kriterien ausgelegt werden.
  • Die andere Ansicht differenziert hinsichtlich der anspruchsbegründenden und anspruchsausfüllenden Voraussetzungen. Erstere entspringen allein den vom EuGH entwickelten Rechtsgrundsätzen. Die weiteren Voraussetzungen entsprechen dem deutschen Staatshaftungsrecht gem. § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG.

Da beide Ansichten regelmäßig zu gleichlautenden Ergebnissen kommen und es sich zudem um einen „Aufbaustreit“ handelt, muss der Streit in der Klausur nicht entschieden werden.

3. Handeln eines Hoheitsträgers

Es muss ein öffentlich-rechtliches Handeln der Legislative, Exekutive oder Judikative vorliegen.

4. Qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht

Die verletze Unionsnorm muss den einzelnen Unionsbürgern Rechte verleihen. Weiterhin muss es sich um einen qualifizierten Rechtsverstoß handeln. Dies ist dann der Fall, wenn der Verstoß offenkundig und erheblich ist. Beispiel ist die Nichtumsetzung einer Richtlinie. Sofern die Richtlinie nur unvollständig oder fehlerhaft umgesetzt worden ist, kommt es darauf an, ob der Mangel offenkundig und erheblich ist.

5. Unmittelbare Kausalität zwischen dem Verstoß und Schaden

Es muss ein materieller oder immaterieller Schaden beim Geschädigten eingetreten sein. Die Kausalität wird nach der conditio-sine-qua-non Formel bestimmt. Denn diese gilt ebenfalls nach Grundsätzen, die für Art. 340 Abs. 2 AEUV entwickelt wurden. Daher darf der Verstoß nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Schaden entfällt. Weiterhin sind Schäden nur kausal, wenn sie nach der allgemeinen Lebenserfahrung typischerweise geeignet sind einen Schaden zu verursachen.

6. Kein Haftungsausschluss

Nach der Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB besteht kein Amtshaftungsanspruch, wenn dem Beamten nur Fahrlässigkeit zur Last fällt und der Verletzte auf andere Weise Ersatz erlangen kann.

Diese Klausel ist jedoch im Fall des europarechtlichen Staatshaftungsanspruchs nicht anwendbar (str.), weil es sich bei diesem Anspruch nicht um eine übergeleitete, sondern um eine unmittelbare Haftung handelt.

Das Richterspruchprivileg des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB ist ebenfalls nicht anwendbar.

Ein Amtshaftungsanspruch kann gem. § 839 Abs. 3 BGB noch ausscheiden, wenn der Geschädigte es in vorwerfbarer Weise versäumt hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden. Diese Vorschrift findet auch für den europarechtlichen Staatshaftungsanspruch Anwendung.

7. Art und Umfang des Schadensersatzes

Der Schadensersatz erfolgt bei Amtshaftungsansprüchen grundsätzlich in Geld. Ansprüche auf Amtshandlungen sind mit diesem Instrument nicht durchsetzbar.

8. Verjährung

Die Verjährung richtet sich nach den §§ 194 ff. BGB. Dies wurde vom EuGH nicht beanstandet.

9. Anspruchsgegner

Es haftet die juristische Person des öffentlichen Rechts, die den Verstoß gegen Europarecht begangen hat.

IV. Zusammenfassung

Der europarechtliche Staatshaftungsanspruch stellt ein anspruchsvolles Thema dar, welches aus guten Gründen gerne im Staatsexamen geprüft wird. Zum einen lässt sich hervorragend Europarecht mit nationalem Staatshaftungsrecht kombinieren. Zum anderen müssen viele Voraussetzungen des Anspruchs auswendig gelernt werden. Wird er tatsächlich einmal geprüft, trennt sich schnell die Spreu vom Weizen. Es lohnt sich daher den Anspruch zu beherrschen.



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3 Gedanken zu „Der europarechtliche Staatshaftungsanspruch

  • xxx

    Zur Haftungslücke bei fehlender Angleichung deutscher Gesetze an Europarecht:

    Zwar haben Behörden grundsätzlich keine Normverwerfungskompetenz, jedoch sind sie aufgrund des Anwenungsvorrangs des Unionsrechts verpflichtet, die Vorschriften des Unionsrechts, sofern sie unmittelbar anwendbar sind, auch dann anzuwenden, wenn eine Vorschrift des nationalen Rechts dem entgegensteht. Demnach läge Verschulden der Behörde vor.

    1. Maria Jaehne

      Hallo,
      Sie haben Recht, dass der Grundsatz der abgestuften Chancengleichheit in § 5 PartG geregelt ist. Die Einschränkbarkeit der Chancengleichheit und damit der Verfassungsmäßigkeit des § 5 PartG ist jedoch eine verfassungsrechtliche Frage, welche an Art. 21 GG gemessen werden muss. Mithin ist die Frage, ob Art. 21 GG eine derartige Einschränkung der Chancengleichheit der Parteien, wie sie in § 5 PartG geregelt ist zulässt.

      Freundliche Grüße,
      Maria Jähne von Lecturio.

    2. Maria Jaehne

      Hallo,
      Sie haben Recht damit, dass Behörden über den Grundsatz aus Art. 20 GG auch an Unionsrecht gebunden sind. Der nationale Amtshaftungsanspruch erfordert jedoch auch Verschulden, § 839 I BGB: Da Richtlinien idR aufgrund unklarer Ausgestaltungen und etwaigen Umsetzungsspielräumen nicht unmittelbar anwendbar sind, und dem einfachen Behördenmitarbeiter auch regelmäßig nicht die konkreten Auswirkungen auf die nationalen Normen klar sein kann und muss, ergibt sich in solchen Fällen nicht immer automatische eine Haftung. Wenn der Amtswalter jedoch eine Ahnung hat, dass die entsprechende Norm gegen Unionsrecht verstoßen könnte, muss er das Verfahren aussetzen. Eine insoweit vergleichbare/lehrreiche Entscheidung kann hier (http://www.zjs-online.com/dat/artikel/2013_1_673.pdf) nachgelesen werden.

      Freundliche Grüße,
      Maria Jähne von Lecturio.