Wer als Nichtbehinderter schon einmal versucht hat, seine Umgebung im Rollstuhl oder mit verbundenen Augen zu erfahren, bekommt nur eine Ahnung davon, wie schwierig sich die gleichberechtigte und selbstverständliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für Menschen mit speziellen Bedürfnissen gestalten kann - im eigenen Heim, im öffentlichen Raum und auch auf Arbeit. Deswegen ist es längst Zeit für eine Einführung in das Thema "barrierefreier Betrieb".
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Bild: “ohne Angabe” von Activedia. Lizenz: CC0 1.0


Was ist Barrierefreiheit?

Der aus dem Galloromanisch-Französischen stammende Begriff „Barriere“ wird definiert als etwas, was sich zwischen Personen oder Dingen befindet und diese trennt bzw. behindert. Barrieren sind also Schranken, Hürden oder Blockaden – und zwar nicht nur im gegenständlichen Sinne. Sie gehen in ihrer Bedeutung insofern darüber hinaus, als dass sie den individuellen physischen, psychischen und sozialen Möglichkeitsraum und damit die Erreichung eines bestimmten Ziels behindern.

Hier wird schon eins klar: das individuelle Zwischenspiel von persönlicher Verfassung, Behinderung und Barriere zeigt, dass Barrieren für jeden etwas anderes bedeuten. Demzufolge kann auch Barrierefreiheit nicht als der eine, konkrete Zustand definiert werden. Wo für den einen Barrieren abgebaut werden, entstehen sie dadurch womöglich für jemanden anderen. Manchmal geht es auch gar nicht um das Abbauen, sondern um das Hinzufügen von Elementen.

Für die praktische Anwendung brauchen wir sie trotzdem, die Definition der Barrierefreiheit. Und da hilft der Blick in das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), in dessen §4 geschrieben steht:

Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.

Im Sinne der Inklusion meint die Definition, dass es keine „behindertengerechte“ (bitte verwenden Sie diesen Begriff ab heute nicht mehr) Sonderlösungen mehr gibt, dass kein Mehraufwand zur Überwindung von Barrieren entsteht, dass selbstständig agiert werden kann und dass Zugänglichkeit und Nutzbarkeit sich gegenseitig bedingen, was das englische Wort „accessibility“ semantisch schon vereint.

Wer stößt auf Barrieren?

Im engeren Sinne ist Barrierefreiheit auf Menschen mit Behinderungen bezogen. Es gibt Gruppen mit sensorischen (Blinde und Sehbehinderte, Gehörlose und Hörgeschädigte) und motorischen Behinderungen sowie Gruppen mit Lernschwierigkeiten, die durch Krankheiten, angeborene Behinderungen, Unfallverletzungen oder sonstige Ursachen entstanden sind.

Unter dem Gesichtspunkt notwendiger Nachteilsausgleiche des Staates versteht das Sozialgesetzbuch 9 in §2 Menschen als behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ Jene Teilhabe wird im Grad der Behinderung (=GdB) ausgedrückt.

Über die unterschiedlichen Zielgruppen der Menschen mit Behinderung im engeren Sinne hinaus, ist Barrierefreiheit ebenso ein Aspekt für Menschen, die nach Definition zwar nicht als Behinderte gelten, jedoch trotzdem zumindest zeitweise auf Barrieren stoßen. Diese werden entsprechende Maßnahmen für Behinderte ebenso als notwendig oder zumindest als angenehm empfinden.

Was bedeutet Barrierefreiheit für Unternehmen?

Die Frage ist ziemlich einfach: wollen Sie sich als modernes, verantwortungsbewusstes Unternehmen, das sich um die Gesundheit und Zufriedenheit seiner Mitarbeiter kümmert, wahrgenommen werden? Möchten Sie eine starke Arbeitgebermarke, größere Bewerberzahlen, höhere Produktivität? Dann tun Sie etwas für die Barrierefreiheit in Ihrem Betrieb.

Ohnehin werden Sie früher oder später, je nach Branche oder Vorhaben im Betrieb auf das Thema Barrierefreiheit stoßen, vor allem, wenn Um- oder Neubauten anstehen oder bereits Menschen mit Behinderungen bei Ihnen arbeiten (Technische Regel für Arbeitsstätten ASR V3a.2). Die folgende Übersicht zeigt die unterschiedlichen Richtlinien, die dann Anwendung finden könnten:

Tabelle: Allgemeine Richtlinien zur Barrierefreiheit

internationale Ebene Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen
europäische Ebene Charta der Grundrechte der EU
Europäische Verträge
Vertrag über die Arbeitsweise der EU
Bewilligungsverordnungen aus Fonds
nationale Ebene Grundgesetz
Behindertengleichstellungsgesetz
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
Sozialgesetzbuch IX
Baugesetzbuch
Arbeitsschutzgesetz
Musterbauordnung
Vergaberecht
Barrierefreie Informationstechnikverordnung
DIN-Normen
Zielvereinbarungen nach dem Behindertengleichstellungsgesetz
Länderebene Behindertengleichstellungsgesetze der Länder
Bauordnungen der Länder
DIN-Normen in Listen der Technischen Baubestimmungen
übergreifende Richtlinen zu Spezielthemen Web Content Accessibility Guideline 2.0
Universelles Design
Veröffentlichungen von Initiativen, Vereinen und anderen Körperschaften

Quelle: eigene Zusammenstellung

Wenn Sie sich zu Recht nun etwas erschlagen fühlen von den vielen Verordnungen, Normen und Gesetzen, ist der beste Rat: Lassen Sie sich beraten. Wer hilft, auch in finanzieller Hinsicht, lesen Sie gleich. Und vergessen Sie nicht, dass es manchmal nur kleine Änderungen in den Büroräumen sind, die schon helfen.

Dimensionen der Barrierefreiheit im Unternehmen

Arbeitsstätten können in verschiedenen Dimensionen barrierefrei gestaltet sein. Die ergonomische Dimension meint die Realisierung der Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Arbeitsmittel für alle Nutzer. Damit einhergehend findet auch der psychologische Aspekt statt, wenn durch die Vermeidung von Ausgrenzung und Stigmatisierung das gesamte Potenzial der Belegschaft genutzt werden kann.

Das bedingt auch eine soziale Dimension. Schließlich wird so die Teilhabe der Menschen am Arbeitsleben und damit am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Und schließlich, der für Unternehmen wohl wichtigste Punkt, die wirtschaftliche Dimension:

  • Sie erweitern den Personenkreis der potenziellen Bewerber
  • Sie verbessern betriebliche Prozesse durch eine ergonomischere und störungsfreiere Nutzung
  • Diese betrieblichen Prozesse sind flexibler zu planen und organisieren, wenn individuelle Einschränkungen des Personals keine Rolle mehr spielt
  • Sie minimieren die Gefahr von Unfällen, Störungen und Krankheitsausfällen
  • Sie tun etwas für die Mitarbeiterbindung, weil sie lebensphasenorientierte und individuelle Arbeitsbedingungen schaffen
  • Sie tragen zu einem besseren Betriebsklima und einer offenen, verantwortungsbewussten Unternehmenskultur bei
  • Sie verbessern somit die Außenwirkung des Unternehmens

Wie kann Barrierefreiheit im Unternehmen hergestellt werden?

Wenn Arbeitsstätten neu oder umgeplant und gestaltet werden, sollten Aspekte der Barrierefreiheit unbedingt in die Überlegungen mit einfließen. Auch kleine Änderungen können den Mitarbeitern schon eine große Hilfe sein. Einen ausführlichen Leitfaden dazu gibt beispielsweise die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft auf ihrer Webseite.

Tabelle: Welche Barrieren können abgebaut werden?

Räumliche Vertikale – z. B. Schwellen, Treppen, Aufzüge
Horizontale – z. B. Wege, Flure, Türen, Bewegungsflächen
Einrichtungen (dreidimensionale) – z. B. Einbauten, Möblierung
Soziale z. B. Zugangsmöglichkeiten, Kommunikation
Taktile z. B. Stellteile, Griffe, Oberflächen
Optische z. B. Beleuchtung, Farben, Schrift, Kennzeichen
Akustische z. B. Signale, Töne
Hygienische z. B. Toiletten, Waschgelegenheiten
Stoffliche z. B. Stäube, Baustoffe, Arbeitsstoffe, Allergene

Quelle: VBG

Wenn es um die Umsetzung der Barrierefreiheit geht, spielen zwei Prinzipien eine wichtige Rolle: das Zwei-Kanal-Prinzip und das Zwei-Sinne-Prinzip. Letzteres meint, dass die Arbeitsstätte in jeder Phase ihrer Nutzung auf mindestens zwei alternative Weisen gut wahrnehmbar und erkennbar sein muss. Daran schließt sich das Zwei-Kanal-Prinzip an, wonach die gestaltete Umwelt zwei Alternativen der Erreichbarkeit und der Nutzung aufweisen soll.

Der Empfangsbereich eines Unternehmens sollte also beispielsweise neben einer Drehtür auch durch eine normale Tür in unmittelbarer Nähe, erreichbar sein, und könnte neben einer kontrastreichen Gestaltung auch mit einem taktilen Leitsystem ausgestattet werden. Unterschiedliche Tresenhöhen sind ein weiterer Gestaltungspunkt.

Hier bekommen Sie Unterstützung für Ihre barrierefreie Arbeitsstätte

Nicht nur die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft ist Ihnen bei der Planung und Umsetzung von Barrierefreiheit behilflich. Sie können sich beispielsweise auch an die Beratungs- und Koordinierungsstelle Barrierefreies Bauen der jeweiligen Landesdirektionen wenden oder an das Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit. Wirtschafts-, Handels- und Industriekammern helfen ebenso weiter wie ansässige Behindertenvereine und -verbände.

Vom Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit stammt auch diese ausführliche Aufstellung möglicher Förderprogramme, die Ihr Vorhaben finanziell unterstützen, beispielsweise die Sächsische Aufbaubank.

Sie sind in der Verantwortung

So wie das öffentliche Bewusstsein um die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen allmählich zunimmt, so steigt auf der anderen Seite auch deren Erwartungshaltung. Die Integration in das Arbeitsleben spielt dabei eine wichtige Rolle und Unternehmen stehen in der Verantwortung, Barrierefreiheit als selbstverständliche Grundlage der Arbeitsstättengestaltung zu berücksichtigen.

Doch das ist nicht immer einfach. Es gibt ihn nicht, den einen behinderten Menschen. Die Frage ist eher: Was bedeutet Barrierefreiheit für jeden einzelnen? Barrierefreiheit ist demnach ein Idealzustand, der mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht allumfassend erreicht werden kann. Allerdings erleichtern schon kleine Bemühungen vielen Menschen mit Behinderungen die Arbeit. Es lohnt sich, das Thema Barrierefreiheit endlich anzupacken!

Quellen

Verwaltungs-Berofsgenossenschaft: Bar­rie­re­freie Ar­beits­stät­ten pla­nen und gestalten. via VBG

Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit e. V.: Barrierefrei arbeiten. via BKB

Dr. Zimmermann, Roland: Förderprogramme für Maßnahmen zur Herstellung von Barrierefreiheit. via BKB

Behindertengleichstellungsgesetz

Sozialgesetzbuch IX

Technische Regeln für Arbeitsstätten V3a.2: Barrierefreie Gestaltung von Arbeitsstätten

 

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