Der entschuldigende Notstand gem. § 35 StGB gehört zum Basiswissen im Allgemeinen Teil des Strafrechts. Gerade deshalb sollte man sich bei der Prüfung möglichst keine Fehler erlauben. Doch leichter gesagt als getan – viele Studierende bringen die Voraussetzungen dieses Entschuldigungsgrundes mit denjenigen des § 34 StGB durcheinander oder differenzieren gar nicht erst zwischen den beiden Vorschriften. Ein schwerer Fehler! Damit dir dies nicht passiert, erklären wir hier den entschuldigenden Notstand gem. § 35 StGB  Schritt für Schritt.
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das ist ein umgekippter leitkegel

Bild: “German chaos …” von Dennis Skley. Lizenz: CC BY-ND 2.0


Prüfungsschema

Bei der Prüfung des entschuldigenden Notstands kann man sich an folgendem Schema orientieren:

I. Notstandslage
a) Gegenwärtige Gefahr
b) Notstandsfähiges Rechtsgut: Leib, Leben oder Freiheit
c) des Täters, eines Angehörigen oder einer nahestehenden Person
II. Notstandshandlung
a) Geeignetheit
b) Erforderlichkeit
III. Unzumutbarkeit der Gefahrenlage, § 35 Abs. 1 S. 2 StGB
a) Gefahrverursachung
b) Besonderes Rechtsverhältnis
c) Unbenannte Fälle der Zumutbarkeit
IV. Subjektives Element: Der Rettungswille
V. kein Schuldausschließungsgrund, § 35 Abs. 2 StGB

I. Notstandslage

a) notstandsfähiges Rechtsgut

Der entschuldigende Notstand setzt zunächst einmal eine Notstandslage voraus. Diese erfordert eine gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit. Die Aufzählung dieser Rechtsgüter ist abschließend. Eine analoge Anwendung auf andere Rechtsgüter wird ganz herrschend abgelehnt.

Dies wird damit begründet, dass das rechtswidrige Handeln des Täters nur von der Rechtsordnung toleriert werden kann, wenn eines dieser grundlegenden und höchstpersönlichen Rechtsgüter bedroht ist.

Beachte: Mit dem Schutz des Lebens ist im Rahmen des § 35 StGB nach herrschender Meinung nicht das ungeborene Leben gemeint. Außerdem umfasst der Begriff der Freiheit (wie im Rahmen des § 239 StGB) nur die Fortbewegungs-, jedoch nicht die allgemeine Willensbetätigungsfreiheit.

b) Gefahr

Bei der Frage, ob eine Gefahr vorliegt, kann nach überwiegender Ansicht auf die für § 34 StGB entwickelten Kriterien zurückgegriffen werden.

Definition: Danach ist eine Gefahr gegeben, wenn der Eintritt eines Schadens bei natürlicher Weiterentwicklung zu erwarten ist.

Bei der Entscheidung, ob eine Gefahr vorliegt, muss auf das ex ante-Urteil eines sachkundigen objektiven Beobachters abgestellt werden, wobei auch ein eventuelles Sonderwissen des Täters in die Beurteilung einbezogen werden muss.


Gefahrenquellen § 35 StGB

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c) Gegenwärtigkeit

Definition: Die Gefahr ist gegenwärtig, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts an dem betroffenen Rechtsgut so hoch ist, dass das Ergreifen von Abwehrmaßnahmen zum Zeitpunkt der Notstandshandlung angezeigt ist.

d) geschützter Personenkreis

Daneben muss die Gefahr für den Täter selbst, einen Angehörigen oder eine andere ihm nahestehende Person bestehen.

Angehöriger ist, wer zu dem in § 11 Abs. 1 Nr. 1 StGB festgelegten Personenkreis gehört. Hinsichtlich der Definition der „anderen ihm nahestehenden Personen“ gibt das Gesetz keine Auskunft. Hiervon werden diejenigen Menschen erfasst, zu denen der Täter eine ähnlich enge Beziehung wie zu seinen Angehörigen hat. Als Beispiel werden meist die nichteheliche Lebensgemeinschaft oder enge Freundschaften genannt.


geschützter Personenkreis, § 35 StGB

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II. Notstandshandlung

Der Täter muss außerdem eine entsprechende Notstandshandlung vornehmen. Dabei verlangt das Gesetz, dass die Gefahr nicht anders abwendbar sein darf. Dies ist der Fall, wenn die Notstandshandlung geeignet und erforderlich ist.

Definition: Sie ist geeignet, wenn die erfolgreiche Abwendung des Schadens nicht ganz unwahrscheinlich ist.
Definition: Sie ist auch erforderlich, wenn sie unter mehreren gleich geeigneten Mitteln das mildeste Mittel darstellt.

III. Keine Zumutbarkeit, § 35 Abs. 1 S. 2 StGB

Schließlich ist nach § 35 Abs. 1 S. 2 StGB zu prüfen, ob es dem Täter nach den Umständen zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen. Als Gründe für die Zumutbarkeit werden dabei die Fälle genannt, dass der Täter die Gefahr selbst verursacht hat oder er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand.

Diese beiden Regelbeispiele können jedoch widerlegt werden. Auch bei ihrer Einschlägigkeit ist die Entschuldigung also nicht von vornherein ausgeschlossen. § 35 Abs. 1 S. 2 StGB bestimmt außerdem, dass die Strafe nach § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden kann, wenn der Täter nicht mit Rücksicht auf ein besonderes Rechtsverhältnis die Gefahr hinzunehmen hatte.

Der Täter stand in einem besonderen Rechtsverhältnis, wenn er berufliche oder berufsähnliche Schutzpflichten wahrnimmt, die in der Regel mit einer erhöhten Gefahr für ihn selbst einhergehen. Dies ist zum Beispiel bei Polizist*innen oder Feuerwehrleuten der Fall. Die Zumutbarkeit liegt jedoch nur dann vor, wenn die Gefahr bei der Ausübung der Tätigkeit typischerweise zu erwarten war, da nur in Bezug auf diese Aufgaben Sonderpflichten bestehen.

Die Formulierung „namentlich“ zeigt bereits, dass es neben den genannten Beispielen auch andere Gründe für eine Zumutbarkeit des Hinnehmens der Gefahr gibt. Hierunter fällt etwa die Konstellation, dass der Angehörige oder die nahestehende Person in einem besonderen Rechtsverhältnis stand.


Zumutbarkeit der Gefahrenhinnahme, § 35 StGB

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IV. Subjektives Element: Der Rettungswille

§ 35 Abs. 1 S. 1 StGB verlangt, dass der Täter handeln muss, „um die Gefahr […] abzuwenden“. Er muss sich also der Gefahrenlage bewusst sein und mit Rettungswillen handeln. Die Gefahrabwendung muss das Motiv seines Handelns sein.


subjektives Rechtfertigungselement § 35 StGB

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V. Kein Schuldausschließungsgrund, § 35 Abs. 2 StGB

Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände an (vgl. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB), welche ihn nach § 35 Abs. 1 StGB entschuldigen würden, so wird er nur dann bestraft, wenn er den Irrtum vermeiden konnte.


§ 35 Abs. 2 StGB Rechtsfolgen

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VI. Unterschiede zwischen dem rechtfertigenden und dem entschuldigenden Notstand

Abschließend möchten wir noch einmal die Unterschiede zwischen dem rechtfertigenden (§ 34 StGB) und dem entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) verdeutlichen.

Tipp: Schau dir zur Wiederholung am besten noch einmal diesen Artikel zu § 34 StGB an!

Ein grundlegender Unterschied ist, dass der Täter beim rechtfertigenden Notstand (wie der Name schon sagt) gerechtfertigt ist. Dies bedeutet, dass gegen sein Verhalten keine Notwehr zulässig ist. Demgegenüber bewirkt der entschuldigende Notstand logischerweise erst eine Entschuldigung des Täters, sein Handeln bleibt also rechtswidrig.

Hinzukommend ist im Rahmen des § 34 StGB jedes Rechtsgut notstandsfähig. Bei § 35 StGB müssen dagegen Leib, Leben oder Freiheit gefährdet sein. Außerdem wird innerhalb des rechtfertigenden Notstandes eine Interessenabwägung verlangt. Dagegen wird innerhalb des § 35 StGB nur geprüft, ob der Täter die Gefahr hinzunehmen hatte.

Schließlich darf der Täter die Gefahr aufgrund von § 34 StGB von sich oder einem Dritten abwenden. § 35 StGB schreibt dagegen vor, dass er die Gefahr nur von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abwenden darf.


Unterschied Rechtfertigungsgründe Entschuldigungsgründe

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